Montag, 8.30 Uhr. Kein gewöhnlicher Montag. Kein gewöhnlicher Schulbeginn. Die Sonne scheint über die Helmut-List-Halle, wo sonst gefeiert, getanzt und applaudiert wird. Heute stehen dort 250 Jugendliche in Kleingruppen beisammen. Manche reden leise. Wieder andere lachen – zu laut vielleicht, zu betont. Über allem liegt eine eigentümliche Mischung aus Nervosität und Stärke.
7e, 5c – die Klassenvorstände halten Mappen hoch wie Reiseführer. Um sie scharen sich ihre Schüler. Die Direktorin vom BORG Dreierschützengasse, Liane Strohmaier, tritt mit einem Megafon in der Hand vor. „Ich danke euch, dass ihr da seid“, beginnt sie. „Wir wollen heute nicht ins Gebäude hinein. Aber wir wollen es wieder umarmen, weil unsere Schule ist eine tolle Schule und sie kann nichts dafür, was passiert ist.“ Ein Vorschlag. Keine Forderung.
Ein Schritt in die neue Normalität
Der Tross setzt sich langsam in Bewegung – über den Zebrastreifen, vorbei an hunderten Kerzen, Stofftieren, Botschaften. Die Jugendlichen gehen schweigend, viele jedenfalls. Manche wirken abwartend. Und dann wieder ein paar, die betont fröhlich scherzen. Als müssten sie mit jedem Lachen die Stille übertönen.
„Wie es den Leuten in meiner Klasse geht? Schwer zu sagen“, meint Ennio Resnik, Schülersprecher des BORG Dreierschützengasse. „Manche reden. Manche schweigen. Jeder geht anders damit um. Ich wollte einfach mit meinen Leuten zusammen sein. Reden muss man nicht unbedingt – zusammenhalten reicht oft schon.“ Ein Schulkollege kommt vorbei, beide klatschen sich ab, ziehen sich kurz aneinander. „Das hier“, sagt Ennio Resnik und zeigt auf die Menschen um ihn, „ist unsere Schule. Und die wollen wir uns nicht nehmen lassen.“
Ein Raum zum Durchatmen
Auf dem Schulgelände stehen sechs mobile Klassenzimmer. Klimatisiert. Daneben im Schulgarten Loungemöbel, ein Eiswagen von Charly Temmel, Sonnenliegen. Eine Szene, die sich fast surreal anfühlt. Zwischen der Erinnerung an das Unfassbare und dem Versuch, ein Stück Alltag zurückzugewinnen. „Wir wollten einen Rahmen schaffen, der Geborgenheit gibt“, sagt Direktorin Strohmaier. Der normale Unterricht ist ausgesetzt – stattdessen gibt es Gespräche, Sport, kreative Projekte. Alles kann, nichts muss.
„Ganz viele Schülerinnen und Schüler haben explizit den Wunsch geäußert, noch vor den Ferien in jene Klassenräume zurückzukehren, in denen ihre Freundinnen und Freunde getötet wurden“, berichtet Josef Zollneritsch, Leiter der schulpsychologischen Beratungsstelle der Bildungsdirektion Steiermark. „Sie wollen nicht weglaufen – sie wollen abschließen.“ Das Bedürfnis, die unmittelbaren Orte des Geschehens zu sehen, sei stark. „Es hilft vielen, das Unbegreifliche begreifbarer zu machen. Dort gewesen zu sein, wo es passiert ist – das kann ein erster Schritt sein, es innerlich einzuordnen“, sagt Zollneritsch. „Jeder darf in seinem Tempo zurückkommen. Es wird Zeit brauchen.“
Eine „Umarmung“ für die Schule
Die oberen Stockwerke im Schulgebäude bleiben tabu. Dort, wo der Amoklauf begann. Die Räume werden über den Sommer neu gestaltet. Neue Farben, neue Möbel. Ein Zeichen für einen Neuanfang.
Die Jugendlichen bilden an diesem Montag schließlich gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern eine Menschenkette rund um das Gebäude. Sie halten einander an den Händen, stehen still. Applaus brandet auf. „Wir wollten unsere Schule wieder umarmen“, sagt ein Mädchen aus der sechsten Klasse. „Nicht das, was passiert ist. Aber das, was wir waren. Und was wir wieder sein wollen und werden.“
Ein Ort, der sich verändert – und doch bleibt
Der Wunsch, dass die Schule einen neuen Namen bekommt, ist laut geworden. Auch ein Gedenkort soll entstehen. „Aber das Wichtigste ist: Wir lassen einander nicht los“, sagt Direktorin Liane Strohmaier. „Wir wollen jeden einzelnen zurückholen – in der Zeit, die er braucht.“
Der erste Tag ist geschafft. Ein Tag, an dem nicht alles gut war – aber vieles mutig. Ein Tag, an dem 250 junge Menschen einen Ort in beeindruckender Art und Weise zurückerobert haben. Schritt für Schritt. Gemeinsam.
„Ich bin ziemlich stolz, Teil dieser Schule zu sein“, sagt Ennio Resnik. Dieser Satz klingt nicht wie eine Floskel. Sondern wie ein Versprechen.