Sowohl Gül, der einer der Gründer der Regierungspartei AKP ist, als auch Davutoglu haben sich mit Erdogan überworfen. Immer wieder kursieren Gerüchte, sie wollten eine eigene Partei gründen und so dem amtierenden Präsidenten Konkurrenz machen. Davutoglu schrieb am Dienstagabend auf Twitter, die Entscheidung zur Wahl-Annullierung habe "einen unserer fundamentalen Werte beschädigt". Weiter erklärte er, der größte Verlust für politische Bewegungen sei "nicht die Niederlage bei einer Wahl, sondern der Verlust der moralischen Überlegenheit und des sozialen Gewissens".

Gül, der von 2007 bis 2014 türkischer Präsident war, zog eine Parallele zum Jahr 2007. Damals hatte das Verfassungsgericht seine Wahl ins Präsidentenamt zunächst annulliert. "Es ist traurig, dass wir seitdem keinen Fortschritt machen konnten", sagte Gül.

Der Kandidat Ekrem Imamoglu von der wichtigsten Oppositionspartei CHP hatte die Wahl in Istanbul knapp gewonnen und wurde sogar offiziell bereits zum Bürgermeister ernannt. Er sprach nach der Annullierung von "Verrat". Zuvor hatte die AKP von Erdogan massiv Druck auf die türkische Wahlbehörde YSK ausgeübt, die Wahl für ungültig zu erklären oder neu wählen zu lassen. Dabei machte die AKP Unregelmäßigkeiten an den Wahlurnen geltend.

Imamoglu war bei der Bürgermeisterwahl nach einer zweiten Auszählung mit rund 13.000 Stimmen Vorsprung vor dem AKP-Kandidaten und früheren Ministerpräsidenten Binali Yildirim gelandet - einem Vertrauten Erdogans. Die Annullierung der Wahl hatte international deutliche Kritik ausgelöst.

Die CHP stellte zudem am Mittwoch einen Antrag auf die Annullierung der Präsidenten- und Parlamentswahl von 2018. Damals wurde unter anderem Präsident Erdogan wiedergewählt. Auch alle anderen Wahlgänge der diesjährigen Kommunalwahl, etwa für die Bezirksbürgermeister, sollten für nichtig erklärt werden, sagte der CHP-Vize-Chef Muharrem Erkek. In diesen Wahlgängen hatte die AKP viele Posten gewonnen. Erkek sagte, der Antrag sei bei der Wahlbehörde YSK eingegangen.

Zur Begründung ihrer Entscheidung für eine Neuwahl in Istanbul hatte die Wahlbehörde am Montag angegeben, nicht alle Helfer an den Wahlurnen seien Staatsbedienstete gewesen - so wie es die Vorschriften vorsähen. "Wenn Ihr (die Wahlkommission) sagt, die Wahl von Ekrem Imamoglu sei fragwürdig, dann ist die Wahl von Herrn Recep Tayyip Erdogan am 24. Juni ebenfalls fragwürdig." Denn auch bei den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen seien "Zehntausende Menschen, die keine Staatsbedienstete waren, an Wahlurnen beschäftigt gewesen". Die Wahlen von 2018 hatten Erdogans Macht weiter zementiert.

Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte einen Mangel an Beweisen für die Entscheidung der türkischen Wahlkommission, die Bürgermeisterwahl in Istanbul zu annullieren. "Die Wahlkommission hat bisher noch keine glaubwürdigen Beweise vorgelegt, dass die Istanbul-Wahl nicht fair war und den Willen des Volkes nicht repräsentiert hat", heißt es in Stellungnahme von HRW.