Seit zehn Jahren gibt es in Österreich die Gesellschaft für Gender-Medizin. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Alexandra Kautzky-Willer: Es hat sich einiges getan: Wir haben Gender-Medizin im Medizinstudium verankert, es gibt ein Diplom der Ärztekammer und Lehrstühle in Wien und Innsbruck, wobei man sagen muss: Es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Unser Ziel ist, dass zu jedem Kapitel im Studium auch der Aspekt Unterschiede zwischen den Geschlechtern betrachtet wird.

Aber sind die Erkenntnisse auch bei den Patienten angekommen?

Die Patienten sind natürlich die Letzten, bei denen das Wissen ankommt: Zuerst muss es verstanden, dann gelehrt werden, damit es in die Praxis kommt. Dafür braucht es vor allem Leitlinien – und dazu gibt es noch wenig in der Gender-Medizin.

Ihr Forschungsschwerpunkt ist Diabetes – was gibt es hier für konkrete Unterschiede zwischen Mann und Frau?

Diabetes ist ein sehr schönes Beispiel. Es gibt den Typ 1 Diabetes, der eine Autoimmunerkrankung ist. Eigentlich sind alle Erkrankungen, bei denen sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet, bei Frauen häufiger – dafür sind Frauen aber auch weniger anfällig für Infekte. Das liegt daran, dass das weibliche Geschlechtshormon Östrogen das Immunsystem fördert, während Testosteron, das männliche Gegenstück, das Immunsystem dämpft. Dadurch gibt es den Männerschnupfen wirklich, da es bei Männern häufiger zu schwereren Verläufen kommt. Während aber Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose, Rheuma oder Schilddrüsenerkrankungen bei Frauen häufiger sind, ist das beim Typ 1 Diabetes nicht so. Hier sind mehr Buben betroffen, warum, wissen wir nicht.

Alexandra Kautzky-Willer
Alexandra Kautzky-Willer © APA/HERBERT NEUBAUER

Wie sieht es bei der Volkskrankheit, Diabetes Typ 2, aus?

Diese Form von Diabetes ist eng mit Übergewicht und dem Lebensstil verwoben. Das beginnt schon im Mutterleib: Hat das Kind ein sehr hohes oder ein sehr geringes Geburtsgewicht, ist das Risiko für Diabetes im späteren Leben größer – bei Buben ist dieser Effekt stärker als bei Mädchen. Frauen haben auch biologische Vorteile: Östrogen führt zur besseren Fettverteilung, weniger Fett am Bauch, dafür mehr an den Oberschenkeln, was Frauen vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützt. Auch die Blutfette und der Blutdruck sind bei Frauen niedriger – bis zur Menopause.

Was passiert dann?

Mit der Menopause kommt der große Risikoanstieg: Die Östrogene fallen ab, gleichzeitig ändert sich auch oft der Lebensstil. Frauen nehmen oft stark zu, bekommen die männliche Fettverteilung und das Risiko für Diabetes und Herzerkrankungen steigt.

Lange wurde Gender-Medizin mit „Frauenmedizin“ gleichgesetzt, da der Mann als Norm in der Medizin galt – hat sich das verändert?

Das ist mir ganz wichtig: Es geht nicht um Feminismus, sondern um Männer und Frauen gleichermaßen und gleiche Chancen in der Versorgung. Es ist ja auch beim Mann so, dass man vieles nicht weiß: Die Norm ist der 35-jährige, weiße 80-Kilo-Mann, aber es gibt Alte, verschiedene Ethnien und soziale Gruppen – da gibt es gewaltige Unterschiede. Auch Männer sind unterversorgt, zum Beispiel bei Depressionen und Osteoporose.

Aber es war lange so, dass es kaum Frauen in Medikamenten-Studien gab – hat sich das verbessert?

Heute wird keine Studie mehr ohne Frauen gemacht. In Europa liegt der Anteil bei etwa 40 Prozent – dabei sind aber auch Studien mit Medikamenten, die nur Frauen betreffen. Das verfälscht die Zahlen wieder. Und es ist auch so, dass viele Nebenwirkungen von Medikamenten wie Blutdrucksenker oder Diabetesmedikamente bei Frauen häufiger vorkommen, wohl weil die Dosis nicht stimmt und sie in Studien eben nicht gleich oft vertreten sind.

Ein weiterer Aspekt ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient: Wer versteht sich besser, Ärztin und Patient, Patientin und Arzt?

Manche Daten zeigen, dass eine gleichgeschlechtliche Behandlung am besten funktioniert – also Ärztin und Patientin. Und andere Studien zeigen, dass Frauen als Ärzte besser sind, weil sie sich mehr um die Vorsorge kümmern und sich mehr Zeit für Patienten nehmen, Patienten reden lassen. Das empathisch-soziale Gespür der Frau, das auch ein Vorurteil ist, wird hier bestätigt.