Es läuft ungewöhnlich unrund in der erfolgsverwöhnten ÖVP. Dem Kanzler und Parteichef Sebastian Kurz, der in der politischen Arbeit wenig dem Zufall überlässt, scheinen bisweilen die Zügel entglitten zu sein. Kurz, der gern den Takt vorgibt, wird zunehmend zum Getriebenen – eine neue Grundaufstellung. So ermittelt die Justiz gegen seinen engsten Vertrauten Gernot Blümel, die schwarzen Landeshauptleute begehren auf, Innen- und Wirtschaftsministerin sind angeschlagen, bei Corona ist kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht.

Länder begehren auf

Ordentlich ins Trudeln sind der Kanzler und seine Regierung erstmals im November geraten, als Corona aus dem Ruder lief und Österreich die höchsten Infektionszahlen weltweit aufwies. Trotz der Schnelltests, der Impfungen, der diversen Lockdowns bleibt die virologische Lage angespannt. In der Not hat man zu Jahresbeginn die Landeshauptleute an Bord geholt, die sich nicht mit einer subalternen Rolle begnügen. Dass das schwarze Tirol gegen Wien aufbegehrt hat, rüttelt an der Tektonik der türkisen Volkspartei.

Kompetenz statt Loyalität

Im Jänner stolperte Arbeitsministerin Christine Aschbacher über die Plagiatsaffäre. Kurz zog die Notbremse, die Steirerin musste gehen und wurde durch Martin Kocher ersetzt. Was bemerkenswert ist: Statt bei der Nachfolge auf das Loyalitätsprinzip zu setzen, das bisher die Auswahl türkiser Minister geprägt hat, war nun Kompetenz das Maß aller Dinge. Kurz holte einen renommierten Wirtschaftswissenschaftler, der nicht einmal der ÖVP angehört, ins türkise Team – offenkundig von der Einsicht getragen, dass Corona keine personellen Experimente mehr duldet.

Verrat an grüner DNA

Die Abschiebung einer Schülerin nach Georgien hat das Koalitionsgebälk fast aus den Fugen gehoben. Die grüne Basis probte den Aufstand in den sozialen Medien, mit Müh’ und Not konnte Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler die Rebellion niederhalten. Der Kanzler rückte aus und versicherte, es werde keinen fliegenden Koalitionswechsel geben. Bis zum Ende der Legislaturperiode werden die Grünen intern laufend mit dem Vorwurf konfrontiert werden, ihre eigene DNA zu verraten und Steigbügelhalter einer türkisen Politik zu sein.

Haarsträubendes Sicherheitsvakuum

Angeschlagen ist Innenminister Karl Nehammer. Der Abschlussbericht zum Terroranschlag in Wien wirft die Frage auf, ob Nehammer das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) im Griff hat. Dass die wichtigste Anti-Terror-Behörde der Republik über Monate (!) hinweg nicht in der Lage war, Lagebilder über die Aktivitäten islamistischer Extremisten in Österreich zu entwerfen, gleicht einer Bankrotterklärung. Die Schuld für das Sicherheitsvakuum auf den Vorgänger Herbert Kickl zu schieben, ist zu simpel. Nehammer muss rasch handeln, um die Sicherheitslücke zu schließen. Den beispiellosen Flop um die Online-Plattform „Kaufhaus Österreich“ hat Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck zu verantworten.

Ermittlung gegen engen Vertrauten

Dass die Staatsanwaltschaft gegen den engsten Kurz-Vertrauten ermittelt, sorgt für große Nervosität, allerdings ist nicht auszuschließen, dass die Vorwürfe im Sand verlaufen. Kurz war es bisher gewohnt, die innenpolitische Agenda vom Kanzleramt aus zu steuern. Doch bisweilen findet er sich in der Rolle des Passagiers wieder. Daraus zu folgern, dass die Koalition ins Schlingern gerät, unterschätzt die Entschlossenheit des ÖVP-Chefs. Die Grünen haben nur eine Alternative: den Gang in die wenig erbauliche Opposition. Was die Koalition zusammenhält, ist der Außenfeind – und der heißt bis auf Weiteres Corona.