MICHAEL FLEISCHHACKER: Ich glaube, dass die Gleichzeitigkeit der Debatten über die Corona-Demonstrationen und die Abschiebung von Schulkindern für unser Gespräch ein glücklicher Zufall ist. Der Zynismus, der in dieser Formulierung steckt, ist, denke ich ausnahmsweise angebracht. Denn es gilt in beiden Fällen: Ja, man darf. Man darf die Demonstrationsfreiheit begrenzen – und zwar nicht nur in Pandemiezeiten, sondern immer –, wenn man dafür ausreichende Gründe hat, die einer gerichtlichen Begründung standhalten. Und ich würde meinen, dass, so groß der Brechreiz auch sein mag, den sie hervorrufen, die Abschiebungen rechtlich sogar noch besser begründet sind, als es ein Demonstrationsverbot aus Pandemiegründen wäre. Man kann gegen jeden Demonstranten, der gegen die geltenden Coronaregeln verstößt, ein Verwaltungsstrafverfahren einleiten – eventuell sogar ein Strafverfahren wegen Gefährdung –, aber eine Einschränkung der Demonstrationsfreiheit an sich wird schwer zu argumentieren sein. Will heißen: Man darf in einem demokratischen Rechtsstaat alles, was die Gesetze hergeben und die Gerichte für rechtmäßig erachten, die Frage ist eher, ob man soll, was man darf.

ARMIN THURNHER: Die Pandemie verschärft alles, was wir tun. Sie zwingt uns, die Voraussetzungen unserer Handlungen schärfer ins Auge zu fassen und uns genauer Rechenschaft darüber abzulegen. Sie haben völlig recht, man darf alles, was man darf, bis auf das, was man nicht darf, weil es – mit guten Gründen – momentan verboten ist. Oder, was besser wäre, weil man es sich selbst aus ethischen Gründen versagt. Die Verschärfung führt uns zur Zuspitzung von Fällen, Ausnahmesituationen tun das immer. Die Kinder wurden rechtens abgeschoben, man hätte das Recht aber auch anders interpretieren können, ihre Nichtabschiebung wäre genauso rechtens gewesen. Der Kinder abschiebende Innenminister berief sich auf sein formales Recht und verletzte dadurch seine Menschenpflicht.

FLEISCHHACKER: Ich glaube nicht an Menschenpflichten, nur an Menschenrechte. Und zwar in Form der „natürlichen Grundfreiheiten“, wie sie John Locke vor jetzt auch schon wieder einer Weile formuliert hat: Leben, Freiheit, Eigentum. Alles andere ist politisches Wunschkonzert und Klientelpolitik. An Menschenpflichten in einem engeren Sinn glaube ich überhaupt nicht. Ich würde mir persönlich auch wünschen, dass der Innenminister und die Behörden das anders gelöst hätten, aber die Rede von der Menschenpflicht ist eine Form des Moralismus, die ich auch lieber abschieben würde.

THURNHER: Sie stellen also in Abrede, dass jemand, der an „natürlichen Grundfreiheiten“ interessiert ist, die so natürlich auch wieder nicht sind, dass so jemand im wohlverstandenen Eigeninteresse (für Sie und John Locke wähle ich diese Formulierung) nicht jene Form von Moral pflegen soll, die als Mindeststandard der Goldenen Regel folgt – wie du mir, so ich dir? Das wäre, was ich unter Menschenpflicht verstehe, nämlich das, was wir so frei sind, uns selbst als notwendig aufzuerlegen. Wozu gehört, Kinder nicht bestialisch, sondern menschlich zu behandeln. Das ist keine Glaubensfrage, das ist ein Menschenrecht. Dieses gilt bekanntlich nicht einseitig.

FLEISCHHACKER: In der Tat glaube ich, dass es keine Pflicht gibt, meinen moralischen Vorstellungen zu folgen, sondern jeder seinem eigenen Gewissen folgen darf und soll. Und wenn er keines hat, dann hat er keines, und wenn seines zu anderen Schlüssen kommt als meines, muss ich das aushalten. Es gibt keine universellen Menschenpflichten, nur universelle Menschenrechte, und selbst die sind, wie wir wissen, nicht leicht durchzusetzen. Wenn der Innenminister sagt, dass für ihn die Durchsetzung des Rechtsstaates wichtiger sei als das schreckliche individuelle Schicksal von jungen Menschen, die in ein fremdes Land abgeschoben werden, deren Eltern sich und ihre Kinder aber wissentlich in diese Situation gebracht haben, dann muss er das mit sich und seinem niederösterreichischen Herrgott ausmachen. Mit welcher Autorität, lieber Thurnher, wollen Sie ihm da eine Menschenpflicht auferlegen?

THURNHER: Ich habe keine Autorität über Herrn Nehammer. Es lag in seinem Ermessen, abzuschieben oder nicht. Die Ausrede, er habe die Pflicht, Urteile zu vollstrecken, war nur ein Vorwand. Sie kaschierte eine politische Sauerei, die auch eine moralische Sauerei war. Meine Abscheu ist ihm sicher. An solche wie ihn kann ich nur appellieren. Vielleicht reden wir aneinander vorbei. Ich betrachte Menschenpflicht als das Gebot, Menschenrechte zu beachten. Spannend wird es ja erst dann, wenn solche Rechte gegeneinander abgewogen werden müssen. Damit könnten wir zum Demonstrationsverbot kommen, nach dem wir ja hier gefragt werden.

FLEISCHHACKER: Sosehr ich für die Demonstrationsfreiheit bin und sosehr mir der Versuch zuwider ist, Menschen, die sich dagegen auflehnen, dass ihnen die Regierenden das Leben zerstören, nur weil sie nicht in der Lage sind, mit einer relativ harmlosen Viruserkrankung klarzukommen, als Rechtsextreme zu diffamieren: Das Recht, zu demonstrieren, gehört wohl nicht zu den Menschenrechten, wiewohl die freie Meinungsäußerung in liberalen Demokratien zu Recht sehr weit oben in der Rangordnung der Freiheiten platziert ist. Wer diese Freiheit einschränken will, verstößt nicht gegen ein Menschenrecht, er zeigt nur, für wie schwach er seine inhaltliche Position hält. Insofern sehe ich allfällige Demo-Verbote ziemlich entspannt: Die Regierung hat doch längst kein Gesicht mehr, das sie verlieren könnte.

THURNHER: Da sind wir dann doch auseinander: Ich denke, das Recht auf Demonstration gehört zum Recht, öffentlich seine Meinung kundzutun, ist also Teil der Meinungsfreiheit. Nur darf man dabei eben nicht die Rechte anderer verletzen, zum Beispiel jenes auf Unversehrtheit. Und hat bei Demonstrationen die Regeln zu befolgen, die nicht ein fremder, autoritärer Diktator uns auferlegt, sondern wir selbst, in Gestalt unserer gewählten Repräsentanten, sosehr uns ihre einzelnen Erscheinungen auf die Nerven gehen mögen.

FLEISCHHACKER: Natürlich ist das Demonstrationsrecht Teil der Meinungsfreiheit, und man darf allenfalls jene, die sich auf einer Demonstration nicht regelkonform verhalten, belangen – hatte ich ja schon erwähnt –, aber ich glaube, dass wir da von einem Miniaturproblem reden im Vergleich zu dem, was da noch kommt. Der Großteil der Regierungen der sogenannten freien Welt bemüht sich gerade verzweifelt um den Beweis dafür, dass Demokratien mit Krisen nicht zurechtkommen. Nicht die – tatsächlich stattfindende – Unterwanderung von Anti-Maßnahmen-Demos durch demokratiefeindliche Extremisten stellt also eine Gefahr für die Demokratie dar, sondern das Regierungshandeln selbst.

THURNHER: Auch hier würde ich abwägen. Natürlich gibt es Zusammenhänge zwischen Unterwandernden und regierenden Aufhetzern, wie das Beispiel Trump zeigte. Es gibt Demokratien, die besser mit der Pandemie zurechtkommen, und andere, die nur behaupten, die Besten zu sein, wie unsere. Abgerechnet wird am Schluss. Auf keinen Fall dürfen wir die Nerven verlieren. Die Pandemie wird noch länger dauern. Viele Menschen ahnen oder wissen das, und Unmut entsteht auch daraus, dass die Regierenden sich nicht zuzugeben trauen, dass wir allesamt recht wenig wissen. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir miteinander sorgsam umgehen, nicht wie Verzweifelte.