Frau Meinl-Reisinger, ist Österreich gut für den Start in den Corona-Herbst aufgestellt?

Beate Meinl-Reisinger: Ich habe nicht das Gefühl. Ich vermisse Klarheit und Konsequenz und eine Perspektive. Die Corona-Ampel an sich ist eine gute Idee. Ob die Umsetzung dazu taugt, dass die Bürger wissen, wann was wie geschaltet wird und was es dann bedeutet, bleibt abzuwarten. Und jedenfalls fehlt noch die Rechtsgrundlage dafür.

Wie würden Sie so ein Ampelsystem aufsetzen?
Es braucht feste Kriterien. Wenn einzelne Gemeinden dann eh wieder selber entscheiden, verliert man leicht den Überblick. Berlin zum Beispiel hat sehr konkret festgeschrieben, was passiert, wenn die Ampel umspringt.

Ist das dann nicht ein viel zu starres System bei einer noch nicht völlig bekannten Krankheit?
Ich glaube schon, dass alle Teilnehmer in diesem System, in Schulen beispielsweise, die Eltern, Lehrerinnen und Schüler, Orientierung brauchen. Ich habe das Gefühl, es kennt sich im Moment keiner aus. Es ist nicht einmal mehr klar, was die Ziele der Regierung sind. Im Frühjahr war das Ziel: Wir dürfen das Gesundheitssystem nicht an die Kapazitätsgrenze bringen. Gilt das immer noch, oder ist es das Ziel, ausschließlich jeden Todesfall zu vermeiden, wie es der Gesundheitsminister zuletzt sagte? Da müsste man ganz anders agieren.

Würde jemand widersprechen, dass beides wichtig ist?
Früher ging es der Regierung doch nur um das Covid-„Dashboard“. Die Zahlen zur Arbeitslosigkeit, zur psychischen Entwicklung, zur Gewalt in der Familie, zur Bildung, wie viele Kinder wir verlieren, weil sie über das Distance Learning nicht erreichbar waren, die Überlastung von Frauen – all das hat lange niemanden interessiert.

Wo würden Sie die Priorität setzen?
Die Balance ist wichtig. Wir sollten an dem Ziel festhalten, Risikogruppen zu schützen, um das Gesundheitssystem nicht an die Kapazitätsgrenze zu bringen – und gleichzeitig einen Weg finden, wie wir mit dem Virus leben. Dazu gehören unter anderem Testungen und Contact Tracing – und da habe ich das Gefühl, dass wir Luft nach oben haben.

Wir haben den größten Wirtschaftseinbruch seit Jahrzehnten. Wie kommen wir wieder heraus?
Durch Fokus auf Innovation und Produktivitätssteigerungen. Corona hat Entwicklungen beschleunigt, die schon vorher da waren, strukturellen Wandel, Digitalisierung, etc. Anders, als bei den Soforthilfen ist es jetzt essenziell, auf eine andere Form der Unterstützung umzuschwenken – dahingehend, dass die Unternehmen Luft bekommen, in innovative Produkte gehen können und entsprechende Marktanpassungen machen können. Ich kann nicht das Bild haben, dass alles wieder so wird wie vorher, denn das wird es nicht.

Was wäre die dringendste Maßnahme?
Das Hauptthema sind immer die Lohnnebenkosten. Mitarbeiter kosten zu viel und verdienen zu wenig. Die Krise zeigt, wo wir schwach und schlecht aufgestellt sind, wo wir zu wenig gemacht haben, wo Reformen verabsäumt wurden. Das beginnt im Bildungsbereich, wo wir Neos schon lange warnen, dass wir im Bereich Digitalisierung grottenschlecht sind und für Distance Learning nicht gut aufgestellt sind. Wir wissen aus anderen Bereichen, wie dem Gesundheitsbereich, dass uns die Transparenz fehlt, dass die Datenlage eine schlechte ist. Im Bereich der Wirtschaft haben wir auch gewusst, dass wir eine dünne Eigenkapitaldecke haben, die starke Fremdkapital-Abhängigkeit. Wir haben gewusst, dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Wir wissen, dass ganz viele Unternehmen in Österreich nicht für die digitale Wende oder diesen Strukturwandel gerüstet sind. Das alles wird durch die Krise beschleunigt. Oder schauen wir uns das Pensionssystem an. Man kann natürlich bei all diesen Themen den Kopf in den Sand stecken und sagen, irgendwie wird es schon gut gehen.

Das klingt fast nach Multiorganversagen. Wie gehen wir das als Staat an?
Die schlechte Nachricht ist, wir werden Schulden machen. Das passiert,  und die große Hoffnung ist, dass wir aus diesen Schulden herauswachsen. Ich bin kein Fan davon, dass man jetzt in neue Steuerdiskussionen geht, sondern man muss daraufsetzen, dass man das durch ein Wiederanspringen des Wachstums finanziert. Ich glaube, dass die Kraft und die Fähigkeit in uns liegen.

Kommende Woche fängt in Teilen Österreichs die Schule wieder an. Sie haben selbst Kinder in der Schule. Wie fühlen Sie sich darauf vorbereitet?
Ich sage ganz offen, ich freue mich auf den Schulstart und ich hoffe so sehr, dass er gut funktioniert und mit dem richtigen Maß an Gelassenheit und Entspanntheit passiert. Hysterische Ansätze, die Kinder bei jedem Anzeichen von Schnupfen zu Hause zu lassen, da sage ich auch aus Sicht der Frauen: Das ist definitiv keine Möglichkeit.

Wieso nur aus Sicht der Frauen?
Ich spreche natürlich auch für die vielen Väter, die sich im Frühjahr zwischen Beruf und Familie aufgerieben haben. Aber die nüchternen Zahlen zeigen, dass es vor allem sehr viele Frauen sind. Ganz viele Eltern sind da an die Belastungsgrenze gekommen und es kann nicht sein, dass es an die Eltern delegiert wird, Stoff nachzuholen und man sehr rasch sagt: Das Kind hat Schnupfen und man soll es zu Hause lassen. Das geht nicht. Das ist kein Konzept. Es braucht eine Garantie und es ist die Verantwortung des Staates dafür zu sorgen, dass es in irgendeiner Weise eine Betreuung und auch Bildung gewährleistet ist.