Wir haben die erste Phase der Coronakrise gut überstanden. In Österreich starben dieses Jahr laut dem europäischen Sterberate-Monitoring www.euromomo.eu statistisch bisher nicht mehr Menschen als in früheren Jahren. Es ist klar, dass die schnelle Reaktion der Bundesregierung und der Lockdown angesichts eines unbekannten neuen Virus richtig waren.

Schulterklopfen ist aber nicht angebracht: Dieser Erfolg ist teuer erkauft. Wir stehen am Anfang der größten Wirtschaftskrise seit 100 Jahren. Mit ein paar staatlichen Federstrichen wird unsere Freiheit beschränkt und unser soziales und kulturelles Leben kommt zum Erliegen.

Unklar ist, wie es weitergeht. Die Stärke der Regierungen in der EU – und damit auch der EU selbst – ist ihre Funktion als Krisenfeuerwehr. Was sie nicht so gut können, ist, aus Krisen wieder herauszuführen.

No Exit

Das sehen wir erneut bei Covid. Österreich hat keine Exit-Strategie, zumindest keine sichtbare. Die Experten, die das Bundeskanzleramt beraten, sind geheim (!). Daten werden zum Teil händisch erhoben und Forschern nicht zugänglich gemacht. Regierungen legen den Zeitpunkt fest, wann was wieder möglich ist, ohne Erklärung oder Begründung.

Ein prominenter Virologe sagt uns, dass wir nach noch drei Wochen strengem Lockdown anschließend rascher wieder starten könnten; dies wird öffentlich nicht einmal diskutiert. Es herrscht der Eindruck, dass die Frage, ob Friseure, Gastwirte oder Schulen wieder öffnen dürfen, davon abhängt, welcher Landesfürst oder Kammerpräsident am lautesten verkündet. Planvolles Handeln sieht anders aus.

Die wichtigste Voraussetzung für einen Plan – eine Strategie – ist eine Standortbestimmung. Es ist richtig, dass wir täglich die Covid-Infektionen und Todesfälle zählen. Es ist falsch, dass wir die nicht behandelten Herzinfarkte und Krebsfälle nicht zählen. Es ist richtig, dass unsere Medien über Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit berichten. Es ist falsch, dass nicht getätigte Investitionen und nicht gegründete Unternehmen unerwähnt bleiben.

Selbst wenn diese Informationen vollständig wären: Medizinische und wirtschaftliche Faktoren allein reichen nicht, um die Folgen von Covid und Lockdown abschätzen zu können. Wir müssen uns auch mit den psychischen und sozialen Konsequenzen auseinandersetzen. Verliert die Verwaltung das Vertrauen der Bevölkerung? Was bedeutet es, wenn man kein Konzert und kein Museum besuchen kann? Wie geht es einem 89-jährigen Menschen, dem gesagt wird, dass er dieses Jahr keinen Besuch mehr empfangen darf, zu seinem Schutz? Wie entwickeln sich häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch und Selbstmordrate? Welche Folgen für den Rechtsstaat hat die willkürliche Interpretation von Verordnungen durch den Bundeskanzler und den Gesundheitsminister („Management by Pressekonferenz“)?

Schwer messbar

Eine umfassende Lagebeschreibung ist nicht einfach – vieles ist schwer messbar. Aber sie ist wichtig und nicht unmöglich. Man kann die Anrufe bei der Frauen-Hotline zählen. Man kann Daten erheben, Umfragen in Auftrag geben. Die Abgeordneten im Nationalrat können sich die Zahlen ungerechtfertigter Polizeieinsätze durch Interpellation vorlegen lassen. Man kann diese Zahlen über die Zeit verfolgen, veröffentlichen und diskutieren.

Regierungen haben meist Angst vor Zahlen. Wenn etwas messbar ist, können Bürger die Qualität ihrer Leistungen bewerten. Und wer gemessen und zu leicht gewogen wurde, ist in Gefahr, wieder abgewählt zu werden. Es ist aber in einer Demokratie nicht begründbar, dass die Arbeit von jedem Callcenter-Mitarbeiter und jeder Kassiererin gemessen wird, gegebenenfalls mit Konsequenzen, dies aber für die Arbeit der Regierung, vor allem in Krisenzeiten, nicht so sein sollte.

Nur wenn wir unsere Lage beschreiben können und sehen, wie sie sich ändert, können wir eine Strategie entwickeln, damit die Lage wieder besser wird. Das Entwickeln von Strategie funktioniert wie ein Muskel – die Politik verwendet ihn leider wenig, und er ist in Europa verkümmert. Wir brauchen aber eine Exit-Strategie, weil der Lockdown jede Woche dramatisch steigende Schäden verursacht.

Ziele definieren

Jede Strategie braucht Ziele. In Zeiten von Covid sind diese besonders schwer festzulegen. Wir wissen zum Beispiel, dass wir die Zahl der Covid-19-Toten gegen null drücken können, aber um einen enormen Preis. Wir könnten auch die Zahl der Verkehrstoten gegen null drücken, tun es aber dennoch nicht, weil wir Menschen vom Leben auch anderes erwarten, als nicht zu sterben.

Keine demokratische Regierung kann Ziele im luftleeren Raum festlegen, weil sie Ziele, die im Konflikt miteinander stehen, abwägen muss. Sie muss ihre Abwägungskriterien kommunizieren, damit die Gesellschaft darüber diskutieren kann. In der Krise brauchen wir die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger mehr denn je, denn nur so werden wir ausreichend breite Unterstützung und sogar Konsens erreichen, um Wege aus ihr heraus zu finden. Anders sollte es in einer Demokratie nicht laufen.

Es ist richtig, dass wir vieles über das Virus noch nicht wissen. Daher sind in der Krise die Festlegung von Zielen und Abwägungen besonders schwierig. In solchen Situationen greift eine eiserne Regel jeder Führung, vom Sportklub bis zum Großunternehmen: Wenn man nicht weiß, wo die Reise hingeht, muss man offen kommunizieren, was die Grundlage jeder Entscheidung ist. Man muss den Entscheidungsprozess erklären und immer wieder zur Prüfung stellen.

Wie beim Schach

Dies alles ist schwierig, kann aber unkompliziert erklärt werden: „Wenn A, B und C passieren, dann machen wir X und Y.“ Man verwendet diese Vorgangsweise zum Beispiel beim Schachspiel: Da muss man auch nicht alle Möglichkeiten für die nächsten zehn Züge im Voraus kennen, bevor man zieht. Man passt die Strategie an den jeweils nächsten Zug an. Aber man hat eine grundsätzliche Spielanlage und die wahrscheinlichsten „Wenn, dann“- Möglichkeiten durchgespielt. Die Spielanlage und die wesentlichen „Wenn, dann“-Möglichkeiten – dies muss die Regierung mit allen Parteien sowie mit der Öffentlichkeit diskutieren.

Die Entscheidung der Regierungen in Schweden und Island zum Beispiel, Schulen nicht generell zu schließen, mag sich im Nachhinein als besser oder schlechter herausstellen. Sie ist aber nicht unverantwortlich. Sie ist lediglich getrieben von einer anderen Abwägung als in Österreich: nämlich dass es für die Gesellschaft und für die Kinder wichtig ist, in die Schule zu gehen. Geschlossene Schulen haben einen Preis, einen, der nicht leicht fassbar und messbar ist. Aber es ist ein Preis, den diese skandinavischen Regierungen gegen eine mögliche Steigerung von Covid-19-Erkrankungen abgewogen haben.

Mit gebetsmühlenartigen Appellen an die Bevölkerung ist es nicht getan: Das mag für schwarze Pädagogik reichen („Sei hübsch ordentlich und fromm. Bis nach Haus ich wieder komm“, im Struwwelpeter), für Demokratien reicht es nicht.

Schluss mit den Spielereien, der Informationsverweigerung, der Intransparenz und dem Regieren nach Gutsherrenart!

Die Lage ist zu ernst.