Nach dem Truppenrückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro haben die russischen Besatzer nun auch eine Evakuierung der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka auf der linken Flussseite angekündigt. Die Verwaltung Kachowkas ziehe sich mit den Bürgern der Stadt an einen sicheren Ort zurück, sagte Besatzungschef Pawel Filiptschuk laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass am Samstag. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte indes einen weiteren Vormarsch an.

Evakuierung der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka

Filiptschuk rief die Menschen in einer festgelegten Zone von 15 Kilometern auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Befürchtet wird, dass der Staudamm durch Beschuss zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Russen und Ukrainer werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, eine solche Provokation zu planen. Die ukrainischen Streitkräfte hätten die Verwaltung von Kachowka als Ziel "Nummer eins für einen Terroranschlag" in der Region ausgemacht, behauptete Filiptschuk. Die Ukraine weist Sabotageabsichten zurück.

Das Leben der Menschen sei durch Kampfhandlungen in Gefahr, sagte Filiptschuk. Die Menschen sollten in die südrussische Region Krasnodar gebracht und dort versorgt werden. Filiptschuk versprach den Flüchtenden eine warme Unterkunft, regelmäßige Mahlzeiten und 100.000 Rubel (1.611,60 Euro) Hilfe. Die Ukraine wirft den Besatzern vor, die Menschen zu verschleppen.

Weitere Gebiete sollen befreit werden

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte, dass die Ukraine nach der Stadt Cherson weitere Gebiete befreien wolle. "Wir vergessen niemanden, wir werden niemanden zurücklassen", sagte er am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache. Auch auf der bereits 2014 von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim werde irgendwann wieder die ukrainische Flagge wehen, versprach der Staatschef. 60 Siedlungen in der Region Cherson seien zurückerobert worden.

In der Gebietshauptstadt Cherson selbst würden "Stabilisierungsmaßnahmen" durchgeführt. So sei etwa auch mit der Räumung von Minen begonnen worden. 2000 Sprengsätze seien bereits entschärft worden, erklärte Selenskyj. Die Besatzer hätten bei ihrer Flucht die gesamte kritische Infrastruktur der Stadt zerstört, darunter die Wasser-, Wärme und Stromversorgung. Die Nachrichtenagentur Ukrinform meldete, dass Polizei und Sicherheitskräfte bereits mit der Arbeit in der Gebietshauptstadt begonnen hätten. Rund 200 Polizisten seien nach Cherson entsandt worden, um Straßensperren zu errichten und "die Verbrechen der russischen Besatzer" zu dokumentieren, erklärte Polizeichef Igor Klymenko.

Russische Besatzer verlegen Verwaltungszentrum

Während die Ukraine am Samstag die kampflose Rückeroberung der Gebietshauptstadt Cherson bejubelte, gaben die Besatzer die Verlegung ihres Verwaltungszentrums für das gleichnamige Gebiet in die Stadt Henitschesk bekannt. Ein großer Teil der russischen Administration sei bereits dorthin umgesiedelt worden, meldeten Russlands staatliche Nachrichtenagenturen am Samstag unter Berufung auf einen Sprecher der Chersoner Besatzungsverwaltung.

Henitschesk liegt ganz im Südosten von Cherson am Asowschen Meer und nur wenige Dutzende Kilometer von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim entfernt, die Moskau bereits 2014 annektiert hat. Russland hatte das Gebiet Cherson kurz nach Beginn seines Angriffskriegs Ende Februar weitgehend erobert. Im September ließ der Kreml Cherson – ebenso wie die ukrainischen Gebiete Saporischschja, Luhansk und Donezk – völkerrechtswidrig annektieren.

"Eine der größten Niederlagen"

Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven kündigte Moskau am vergangenen Mittwoch den Rückzug seiner Truppen aus allen Teilen Chersons an, die nordwestlich des Flusses Dnipro liegen – darunter fällt auch die Hauptstadt des Gebiets. Internationale Beobachter werten das als eine der größten Niederlagen für die russische Armee in diesem Krieg.

Nach britischer Einschätzung bedeutet die Rückeroberung Chersons durch ukrainische Truppen einen erheblichen Imageschaden für Russland. "Der Rückzug ist eine öffentliche Anerkennung der Schwierigkeiten, mit denen die russischen Streitkräfte am Westufer des Flusses Dnipro konfrontiert sind", kommentierte das Verteidigungsministerium in London am Samstag.