Leise spielt das Requiem von Mozart. Das Licht im Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses ist gedämmt. Der Sarg steht offen. Zeit für den Abschied von einem großen Politiker, der in Deutschland für seine Verdienste um die Wiedervereinigung bis heute hoch geschätzt wird: Michail Gorbatschow. Es sind Tausende, die dem Friedensnobelpreisträger über Stunden hinweg die letzte Ehre erweisen. Kremlchef Wladimir Putin fehlt - angeblich wegen einer wichtigen Dienstreise.

Krieg hielt westliche Spitzenpolitiker fern

Aus dem Westen ist kein einziger Spitzenpolitiker dabei, weil Russland Krieg gegen die Ukraine führt. Nur so als Gedanke: Wie hätte der Abschied von Gorbatschow wohl in Friedenszeiten ausgesehen? Wer alles hätte es sich nicht nehmen lassen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Nun blickt links vom Eingang ein riesiges Schwarz-Weiß-Porträt des Mannes mit dem markanten Muttermal auf der Stirn auf die Besucher herab. Deren Weg führt dann nach rechts auf eine mit Blumen überladene Balustrade zu, hinter der der Sarg mit dem wächsernen Leichnam steht. Vor dem Gebäude unweit des Kreml ist die Warteschlange noch lang.

Zeit zum Innehalten und Besinnen bleibt während der öffentlichen Trauerfeier kaum: ein kurzer Augenblick des Blumenablegens, eine kleine Verbeugung. Die Ordner winken bereits ungeduldig weiter. "Nicht stehen bleiben", raunen sie. "Ich musste trotzdem weinen, als ich vorbeiging", sagt Sifa. "Mit Gorbatschow ist eine Ära zu Ende gegangen, und wir wissen nicht, wie es jetzt weitergehen wird." Der letzte Präsident der längst verblichenen Sowjetunion starb am Dienstag mit 91 Jahren in einem Moskauer Krankenhaus.

Mehr als zwei Stunden hat die Rentnerin angestanden. Gorbatschow habe sie viel zu verdanken, sagt die Moskauerin. Er habe Russland geweckt, das Land der Welt geöffnet - und die Welt für die eigenen Bürger. "Er war auch der erste Staatschef, den ich als Mann empfunden habe." Gorbatschow habe Frau und Familie gehabt - und die Liebe zu ihnen offen gezeigt.

Der oft als "Putins Bluthund" bezeichnete Ex-Präsident Dmitri Medwedew
Der oft als "Putins Bluthund" bezeichnete Ex-Präsident Dmitri Medwedew © (c) APA/AFP/SPUTNIK/YEKATERINA SHTUKINA (YEKATERINA SHTUKINA)

Es sollte ein Begräbnis in bescheidenem Rahmen sein, sagt Gorbatschows Tochter Irina. Ein Staatsbegräbnis gibt es nicht. Putin steht nicht am Sarg und hält auch keine Trauerrede - anders als noch 2007, als Präsident Boris Jelzin starb. Dessen Leichnam wurde in Russlands wichtigster Kirche aufgebahrt, der Christ-Erlöser-Kathedrale. All diese Ehren gibt es für Gorbatschow nicht. Während der Trauerfeier veröffentlicht der Kreml eine Mitteilung, dass Putin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan telefoniert habe. Nicht der Kremlchef lobt Gorbatschow darin, sondern Erdogan.

Anders als bei Jelzin steht auch keine internationale Politprominenz am offenen Sarg. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz sagte ab, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ließ sich von seinem Botschafter in Russland vertreten. Vielleicht wäre US-Präsident Joe Biden über den Atlantik geflogen. Gegen ihn hat Moskau aber ein Einreiseverbot verhängt, ebenso wie gegen andere westliche Politiker. Wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine herrscht Eiszeit zwischen Russland und dem Westen.

Dabei war es Gorbatschow, der mit seiner Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) die Voraussetzung für das Ende der jahrzehntelangen Konfrontation und auch für den Fall der Berliner Mauer 1989 schuf. Bis heute steht sein Name für eine historische atomare Abrüstung, die er damals mit den USA auf den Weg gebracht hatte.

Liebe sei das Motiv für viele seiner Handlungen gewesen, meint Olga, eine etwa 60-Jährige Moskauerin in der Warteschlange. "Die deutsche Einheit hat er ermöglicht, weil er verstanden hat, was es heißt, wenn die Familie getrennt ist." Sicher hätte er dafür einen höheren Preis fordern können. Doch er sei eben Romantiker gewesen. "Dafür war er aber nie ein Selbstdarsteller wie die jetzigen Politiker, sondern ein echter Mensch."

Zerfall der Supermacht Sowjetunion

Der damalige Kremlchef, der in den vergangenen Jahren immer wieder im Krankenhaus behandelt werden musste, wollte mit seinen Reformen noch den Kommunismus modernisieren. Doch er leitete selbst den Zerfall der Supermacht Sowjetunion ein, das Aus des kommunistischen Machtimperiums. Das nehmen ihm in der Heimat bis heute viele übel. Das klang in russischen Reaktionen nach dem Tod an. Immerhin schaltet das Staatsfernsehen immer wieder zur Trauerfeier und zeigt Dokumentationen über "Gorbi", wie er in Deutschland genannt wird.

Viele der mehreren Tausende, die vor dem Haus der Gewerkschaft stehen, haben ihn als Politiker noch selbst erlebt. Es sind aber auch einige Jüngere in der Schlange. "Ein Klassenkamerad meiner Tochter ist auch dabei", sagt Anton Orech, ehemaliger Kolumnist beim liberalen Radiosender Echo Moskaus. "Unter den jetzigen Bedingungen ist es das einzige legale Mittel, um seine Meinung kundzutun."