Jedes Haus, das in sich uneins ist, wird nicht bestehen,” unterstrich Abraham Lincoln in einer prophetischen Grundsatzrede 1858, in der er vor der stetigen politischen Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft warnte, die sich früher oder später in nackter Gewalt entladen würde.
Die 1850er Jahre galten bis dato als das gefährlichste Jahrzehnt für die amerikanische Republik, welches letztendlich im blutigsten Krieg der US-Geschichte, dem Bürgerkrieg (1861–65) mündete. Nun scheinen die 2020er Jahre dem 19. Jahrhundert, zumindest was die Spaltung der Gesellschaft betrifft, Konkurrenz machen zu wollen.

Amerika scheint gespalten wie seit mehr als 170 Jahren nicht mehr: Der Oberste Gerichtshof der USA kippte letzte Woche das seit 1973 bestehende Grundrecht auf Abtreibung. Und erzkonservative, religiös-fundamentalistische Republikaner haben schon ihre Augen auf neue Ziele gerichtet und wollen etwa die gleichgeschlechtliche Ehe oder das Recht auf Empfängnisverhütung abschaffen.

Zuspitzender Kulturkrieg

Das Ende des bundesweiten Rechts auf Schwangerschaftsabbruch ist ein weiterer Katalysator in einem sich zuspitzenden Kulturkrieg, bei dem der großteils liberale, säkulare Nordosten, die Westküste sowie alle größeren urbanen Zentren dem mehrheitlich ruralen religiösen Rest der USA gegenüberstehen. Freilich verläuft die säkular-religiöse Trennlinie nicht so eindeutig. Einige moderate Protestanten und Katholiken befürworten ein Grundrecht auf Abtreibung. Auch sind laut einer Umfrage unter Amerikanern vom Mai 2022 mehr als 61 Prozent der Meinung, dass Schwangerschaftsabbrüche in allen oder den meisten Fällen legal sein sollten. Vielmehr unterstreichen die kämpferischen Reaktionen von Teilen der amerikanischen Gesellschaft die besondere Rolle, die die Religion im politischen Diskurs der USA nach wie vor spielt.

Religion und Politik sind seit jeher eng miteinander verflochten. Das ist darauf zurückzuführen, dass die USA über die letzten zwei Jahrhunderte im Gegensatz zu Europa keinen großen Säkularisierungswellen ausgesetzt waren. Religiöse Sprache ist nach wie vor fast allgegenwärtig im politischen Alltag und prägt die politische Rhetorik.

Die Grundsatzentscheidung des Obersten US-Gerichtshofes 1973 im Fall „Roe gegen Wade“ mobilisierte die christliche Rechte für die republikanische Partei wie kein anderes Ereignis zuvor oder danach. Solange republikanische Politiker wie Donald Trump versprachen, konservative Richter in Gerichten zu platzieren, um Gesetze im Einklang mit einem religiös-fundamentalistischen Weltbild zu verabschieden, konnten sie sich der Stimmen der christlichen Konservativen sicher sein. Eine Allianz zwischen sozial und wirtschaftlich konservativen Politikern und Wählern unter dem Dach der republikanischen Partei ist das Resultat dieser insgeheimen Abmachung. Und die hält nach wie vor.

Unter Demokraten gibt es kein ähnliches Bündnis. Der demokratische Präsident der USA, Joe Biden, befürwortet zwar das Grundrecht auf Abtreibung, lehnt es aber persönlich ab. Biden ist selbst Katholik, wird jedoch von vielen Angehörigen seiner Glaubensgemeinschaft als zu liberal gesehen. Laut Biden sei die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes „die Verwirklichung einer extremen Ideologie“ und ein „tragischer Fehler.“
Die weltanschauliche Spaltung zwischen einer immer säkularer werdenden demokratischen Partei auf der einen Seite und einer religiös-fundamentalistisch angehauchten republikanischen Partei auf der anderen Seite wird sich also in den nächsten Jahren noch verstärken. Und das verheißt nichts Gutes für die amerikanische Demokratie.