Sieben Jahre sind seither vergangen. "Was in meiner Stadt, mit meiner Familie passiert, ist unglaublich", sagt Lesya. "Wir konnten uns nie vorstellen, dass so etwas bei uns im 21. Jahrhundert passieren könnte – so nah an Europa." Lesya ist 20 Jahre alt, sie kommt aus Donezk, einer Stadt in der Ostukraine. Als sie noch ein kleines Mädchen war, bricht in ihrer Heimat der Krieg aus. Sie erinnert sich an schwere Kämpfe: "Die Außenbezirke von Donezk, viele kleinere Orte wie Debal'ceve, wurden völlig zerstört, die Menschen dort haben alles verloren." Doch die Zeichen des Krieges werden auch im Zentrum der osteuropäischen Metropole deutlich. Ein beschädigtes Fußballstadion, zerbombte Gebäude und Wolkenkratzer mit zerbrochenen Fenstern prägen die heute depressive Stadtkulisse.

Die beschädigte Donbass-Arena in Donezk. 2012 wurde hier noch die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen – heute ist das Stadion geschlossen
Die beschädigte Donbass-Arena in Donezk. 2012 wurde hier noch die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen – heute ist das Stadion geschlossen © (c) AP (Dmitry Lovetsky)

Lesyas Eltern entscheiden zu dieser Zeit, ihr Mädchen in die Obhut der in Italien lebenden Oma zu geben. Donezk wurde zu gefährlich, Lesya zum Kriegsflüchtlingskind. Der Krieg zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee hatte gerade erst begonnen. Die Separatisten riefen noch im selben Jahr in Donezk eine „unabhängige Volksrepublik“ aus, seither wurden mehr als 13.000 Menschen getötet. Die Stadt, so wie Lesya sie kennenlernte, gibt es heute nicht mehr. "Viele pro-ukrainische Menschen sind in die Ukraine gezogen, jene, die pro-russisch sind, nach Russland. Diejenigen, die dort geblieben sind, sind überwiegend pro-russisch – aber nicht alle."

Zu dieser kleinen Gruppe zählen auch Lesyas Eltern sowie eine Seite der Großeltern. Sie blieben in ihrer Heimat, wollten aber unter keinen Umständen Teil der proklamierten "Donezker Volksrepublik" – ohne internationale Anerkennung – werden. "Meine Eltern haben einen ukrainischen Pass", erzählt Lesya. "Sie versuchen, sich von der Republik abzuschotten und unabhängig von den Druckmitteln der Regierung zu sein." Im Moment würde das noch funktionieren. Noch. Denn wenn sie eines Tages beispielsweise ihr Haus verkaufen möchten, ginge das nicht ohne den entsprechenden Pass. "Meine Großeltern mussten den Pass akzeptieren. Ohne ihn gibt es keine Rente."

Den meisten Menschen, die in Donezk leben, wird ein donezkischer oder russischer Pass aufgezwungen – er ist das Ticket für Arbeit und Sozialleistungen. Weil Lesyas Eltern selbstständig sind, fliegen sie sozusagen unter dem Radar. Allerdings mussten sie die Nummerntafel wechseln, nachdem die ukrainische für illegal erklärt wurde. "Autos mit ukrainischen Nummernschildern werden von der Polizei sofort angehalten und beschlagnahmt", sagt Lesya. Dazu kämen hohe Geldstrafen.

Normalzustand Kriegsgefahr

Lesyas Familie ist Russland-kritisch, und das ist sehr gefährlich: "Wenn man in Donezk gegen Russland ist, kann man das nicht sagen", sagt sie. Dieses Damoklesschwert bedroht viele Haussegen: "Die Familien streiten sich, weil die Angehörigen unterschiedlich über die Situation denken. Jedes Familienessen endet mit einer politischen Diskussion. Oft ist es besser, erst gar nicht zu reden." Und so schweigt man sich an, vom engsten Familienkreis bis tief in die Gesellschaft.

Seit Ende letzten Jahres spitzt sich der Ukraine-Konflikt wieder zu, es vergeht kein Tag ohne Meldungen über eine mögliche russische Invasion in die Ukraine. Im Osten des Landes toben die heftigsten Kämpfe seit 2015, der vereinbarte Waffenstillstand scheint nicht viel mehr zu sein als ein Märchen. Und an Märchen glauben die Menschen in der Ostukraine schon lange nicht mehr.

Niemand weiß, ob Putin nur Ängste schüren will oder tatsächlich einen Krieg im Sinn hat. Die Bürger von Donezk sind das Klima der Angst aber längst gewöhnt, die Kriegsgefahr eine normale Sache. Lesya: "Und das ist furchtbar!" Inmitten des aufflammenden Konflikts soll Putin nun nach dem Willen der russischen Staatsduma über die Anerkennung der beiden abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als "Volksrepubliken" entscheiden. In Kiew warnte man Russland vor diesem Schritt.

Flagge und Wappen der proklamierten Republik ohne internationale Anerkennung
Flagge und Wappen der proklamierten Republik ohne internationale Anerkennung © (c) AFP (ALEXANDER NEMENOV)

Lesyas Familie glaubt aber nicht, dass sich dadurch für sie unmittelbar etwas ändern würde: "Russland hat Donezk bereits de facto als unabhängige Republik anerkannt: Die gesamte Regierung der Volksrepublik wird von Russland benannt und kontrolliert, wir haben die russische Währung, russische Produkte im Supermarkt und so weiter. Donezk ist bereits eine 'russische Region'".

Eine Anerkennung Russlands würde aber jedenfalls für Zündstoff in der Auseinandersetzung mit der Ukraine sorgen. Doch einen Notfallplan haben Lesyas Eltern keinen: "Donezk ist bereits besetzt, wahrscheinlich ist es hier sicherer." Hinzu kommt, dass sie eigentlich gar nicht wegkönnen. Der Flughafen und die Eisenbahn fielen dem Krieg zum Opfer, die Grenze zur Ukraine ist dicht. "Man braucht eine Sondergenehmigung der Volksrepublik – und die zu bekommen, ist fast unmöglich. Die einzige Möglichkeit, in die Ukraine zu gelangen, ist über Russland."

Und so bleibt Lesyas Familie im Kriegsgebiet. Jeden Abend läuft der Videocall zwischen Italien und Donezk über Stunden – auch wenn keiner etwas sagt, ist es schön, irgendwie miteinander verbunden zu sein. Lesya: "Ich versuche nicht an das Schlechte zu denken. Dazu gehört gerade auch, keine Nachrichten zu lesen oder hören." Nachsatz: "Es ist erschütternd. Ich möchte nicht jeden Tag weinen." Klar sei, meint sie, was Putin tut, ist nicht normal. Er müsse endlich aufhören, mit den Gefühlen und Leben der Menschen zu spielen. "Aber ich hoffe noch immer, dass es eines Tages wieder gute Nachrichten geben wird."

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