Russland hat rund 100.000 Soldaten an der Grenze der Ukraine aufmarschieren lassen. Nato und USA sehen eine Kriegsgefahr. Russland bestreitet das. Wie sehen Sie die Lage?

WALTER FEICHTINGER: Wenn ein Land über Tausende von Kilometern so viele Soldaten an die Grenze eines anderen Landes schickt und dort über Monate hinweg stationiert, dann ist das keine „normale Übung“. Das ist der Aufbau einer militärischen Drohkulisse – vorerst mit dem Ziel, den politischen Gesprächen Gewicht zu verleihen.

Der Westen und die Ukraine sehen Russland wegen des Aufmarsches als Aggressor. Moskau bezeichnet die Nato als Aggressor und kritisiert die Ost-Erweiterung und die Militärhilfe für Kiew.



Auf der einen Seite haben wir die Erweiterung der Nato um ehemalige Sowjetrepubliken bzw. Warschauer-Pakt-Staaten. Das ist nicht kriegerisch passiert, sondern politisch, als Vertragsakt, weil diese Staaten in die Nato hineingedrängt haben. Warum haben diese Länder so gedrängt? Weil sie Angst vor Russland hatten. Dem muss man gegenüberstellen, was auf der anderen Seite geschah: russischer Einmarsch in Georgien 2008 – in Südossetien und Abchasien. Militärische Inbesitznahme und Annexion der Krim 2014. Dann die Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine, militärisch, politisch. Für mich ist klar, auf welcher Seite die Aggression dominiert.

Moskau sagt, es fühle sich bedroht, weil durch die Osterweiterung Nato-Waffen direkt vor seiner Grenze stehen.

Auch hier argumentiert Russland, es sei bedroht, obwohl sich die betroffenen Staaten der Nato zuwandten, weil sie sich von Russland bedroht fühlten. Beide Seiten fühlen sich also bedroht. Wenn man so einen Zustand hat, sollte man dringend reden. Dieser Dialog ist das, was durch diese offensive russische Vorgangsweise in Gang kommen könnte und worauf Putin aus meiner Sicht abzielt. Vorausgesetzt, dass der Bogen nicht überspannt wird und es nicht zu einer Eskalation kommt.

Wie hoch ist die Kriegsgefahr? Was ist jetzt aus Ihrer Sicht das wahrscheinlichste Szenario?

Ich gehe davon aus, dass der jetzige Druck vonseiten Russlands aufrechterhalten bleibt, um weitere Gespräche mit den USA zu erzwingen und diese nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Davon, wie diese Gespräche laufen, hängt ab, welche Maßnahmen folgen. Und Russland hat hier eine wirklich große Werkzeugkiste (siehe Szenarien unten).



Russland hält die Ukraine mit dem Aufmarsch im Zangengriff.

Die Umzingelung erfolgt, um die ukrainischen Kräfte aufzusplitten – diese müssen sich für Angriffe aus allen Richtungen wappnen und können sich nicht voll auf den Donbass im Osten konzentrieren.

Putin hat an die USA unerfüllbare Maximalforderungen gestellt.

Dass die utopisch sind, weiß er. Doch Putin hat auch jetzt schon viel erreicht: Biden redet mit ihm auf Augenhöhe. Der Westen ist alarmiert und Russland hat einen großen internationalen Auftritt. Die Ukraine ist deutlich gewarnt, dass sie nicht zu eng an die Nato herantreten soll. Auch die Nato ist gewarnt. Zugleich sendet Putin ein starkes Signal an den ganzen post-sowjetischen Raum. All das kann man der eigenen Bevölkerung gut verkaufen. Putin kann aus meiner Sicht zufrieden sein.