In Österreich wurde am Tag des Inkrafttretens des Atomwaffenverbotsvertrags (TPNW) vor allem über ein Video des Außenministeriums über die Auswirkungen einer Atombombe in Wien diskutiert und weniger über das Abkommen selbst. Hat Sie die Reaktion überrascht und denken Sie, dass solch drastische Schritte notwendig sind, um auf die Gefahren von Atomwaffen aufmerksam zu machen?

MOHAMMED EL-BARADEI: Um die Bedeutung des Atomwaffenverbotsvertrags zu verstehen, muss man den Fokus darauf richten, was er zu erreichen versucht. Die Bedrohung durch Atomwaffen ist keine theoretische Möglichkeit, sondern eine reale Gefahr. Um eine ausgewogene und realistische Diskussion zu führen, müssen wir uns sowohl auf die Bedrohung durch Atomwaffen als auch auf den Mechanismus zu ihrer Bekämpfung, also den Verbotsvertrag, konzentrieren. Man kann das eine nicht vom anderen trennen.

Der Vertrag wird von 50 Staaten weitgehend unterstützt, aber alle Atommächte und ihre Verbündeten ignorieren den Vertrag. Macht ihn das nicht zahnlos?

EL-BARADEI: Die 50 Staaten, die den Vertrag ratifiziert haben, sind die frühen Vögel oder die Vorreiter. Der Vertrag wurde von 122 Staaten angenommen und hoffentlich werden ihn alle diese Staaten bald ratifizieren. Das Verbot steht im Einklang mit dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT), der vor 50 Jahren geschlossen wurde, um eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, und ist eine logische Folge davon. 

Dies erfordert kollektive Anstrengungen der Regierungen und aktives Engagement der Zivilgesellschaft, bis wir die Nuklearmächte und ihre Verbündeten ins Boot holen.

Wie groß sehen Sie die Gefahr einer nuklearen Eskalation zwischen den Supermächten oder Pakistan und Indien oder, wenn sie in die Hände von nichtstaatlichen Terroristen gelangen?

EL-BARADEI: Die Experten sind sich überall einig, dass das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen heute höher ist als jemals zuvor seit der Kubakrise 1962. Dies sollte ein Weckruf für uns alle sein. Der US-Präsident zum Beispiel hat die „alleinige Autorität“, Atomwaffen einzusetzen. Er hat weniger als zehn Minuten Zeit, eine Entscheidung zu treffen, um auf einen gemeldeten Atomangriff zu reagieren. Das sollte jeden erschaudern lassen. Noch erschreckender ist, dass es sich bei einem „gemeldeten Angriff“ leicht um einen Computerfehler oder eine Cybermanipulation handeln könnte. Man könnte sich viele schreckliche Szenarien ausdenken, in denen Atomwaffen absichtlich oder durch eine Fehlkalkulation eingesetzt werden könnten. Menschliche Fehlbarkeit kann nie ausgeschlossen werden. Das albtraumhafteste Szenario ist natürlich, wenn eine terroristische Gruppe eine Atomwaffe in die Hände bekommt.

Österreich war ein Pionier des Abkommens, ist Sitz der Atomenergiebehörde, lehnt Atomkraft auch im zivilen Bereich vollständig ab und gilt damit als glaubwürdiger Akteur in dieser Frage. Welche Möglichkeiten haben kleine Länder überhaupt, bei diesem Thema Stärke zu entwickeln?

EL-BARADEI: Wir sollten die Rolle der kleinen Staaten nicht minimieren oder unterbewerten. Wie im Fall von Österreich haben sie vielleicht nicht die physische Macht, aber sie haben die moralische Autorität, im Namen der Weltöffentlichkeit zu sprechen, die nicht unter einem nuklearen Damoklesschwert leben will.

Zurzeit ist der Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland das Hauptthema. Ist dies ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Joe Biden Wladimir Putin die Hand reicht, oder ist es nur der letzte Schritt zurück vor dem Abgrund, in den wir sonst gefallen wären?

EL-BARADEI: Die Vereinbarung zwischen den USA und Russland, den New-Start-Vertrag zu verlängern, der eine Obergrenze für die Anzahl der stationierten Atomwaffen festlegt, ist eindeutig ein ermutigender Schritt in die richtige Richtung. Jetzt kommt es darauf an, dass diese beiden Staaten, die mehr als neunzig Prozent der Atomwaffen besitzen, auf diesem Vertrag aufbauen und sich schließlich andere Waffenstaaten anschließen. Der nächste Schritt wäre, sich mit den Nichtatomwaffenstaaten, die dem Verbotsvertrag beigetreten sind, zusammenzuschließen und einen Rahmen auszuhandeln, wie ein vollständiges Verbot von Nuklearwaffen erreicht werden kann.

Sehen Sie da überhaupt noch ernsthafte Abrüstungsmöglichkeiten, wenn Staaten wie Nordkorea, Iran, Israel, Saudi-Arabien und sogar Brasilien und Argentinien nach der Bombe streben oder sie insgeheim schon haben?

EL-BARADEI: Das derzeitige globale Sicherheitssystem von Atomstaaten und nuklear Besitzlosen ist weder fair noch nachhaltig. Deshalb haben sich alle Staaten im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags verpflichtet, nukleare Abrüstung zu erreichen. Der Verbotsvertrag hat diese Verpflichtung noch einen Schritt weitergeführt, um einen gewissen Druck auf die Waffenstaaten auszuüben, die die Erfüllung ihrer Abrüstungsverpflichtung hinausgezögert haben. Einige der von Ihnen erwähnten Staaten haben versucht, es den großen Burschen nachzumachen und sich Atomwaffen zuzulegen, um sich Macht und Prestige zu verschaffen. Aber sobald die großen Atomwaffenstaaten die Führung übernehmen, um ernsthaft abzurüsten und sich auf ein inklusives und faires globales Sicherheitssystem zu einigen, in dem sich alle Staaten sicher fühlen, sehe ich keinen Grund, warum sich nicht alle Staaten daran halten werden.

Das Atomabkommen mit dem Iran wurde vom vormaligen US-Präsidenten Donald Trump gekündigt, weil es die Bedrohung aus Teheran aus Sicht der USA nicht ausreichend gebannt hat. Gibt es jetzt unter Joe Biden neue Hoffnung, oder ist das nicht der Kontext, in dem die iranische Aggression in der Region überhaupt neu verhandelt werden muss?

EL-BARADEI: Aus meiner Sicht war das Atomabkommen mit dem Iran der richtige Ansatz: Vertrauensbildung durch Dialog und Verhandlungen, nicht durch Konfrontation und Sanktionen. Das Abkommen ist eine Kombination aus der Einschränkung der nuklearen Aktivitäten des Irans und robusten Verifikationsmaßnahmen. Es garantiert, dass der Iran zumindest für das nächste Jahrzehnt keine Atomwaffen erwerben wird. Die Idee ist, diesen Zeitrahmen zu nutzen, um andere strittige Fragen, einschließlich der regionalen Sicherheit, zu diskutieren und zu vereinbaren. Ich bin ermutigt, dass die Biden-Administration ihre Absicht erklärt hat, zu dem Abkommen zurückzukehren und auf ihm aufzubauen.

Sie werden dieses Jahr 79 Jahre alt, und es scheint, als hätten Sie sich weitgehend von der öffentlichen Bühne zurückgezogen. Sind Sie versucht, in die Politik zurückzukehren, zum Beispiel, wenn Sie die Unruhen in Ihrem Heimatland oder die aktuelle Bedrohung durch Atomwaffen betrachten?

EL-BARADEI: Wohin man den Blick auch wendet, die Welt sieht nicht gut aus. Wir scheinen irgendwie unseren Kompass verloren zu haben. Es gibt mehr Konfrontation als Kooperation, Nationalismus und Autoritarismus sind auf dem Vormarsch. Die Demokratie ist unter Beschuss und die Menschenrechte werden systematisch und grob verletzt. Ich denke jedoch, dass ich in Anbetracht meines Alters meinen Beitrag geleistet habe.

Sie sind mit mehr Verbundenheit mit Gleichaltrigen überall auf der Welt aufgewachsen und sind eher bereit, den Planeten auf der Basis von Gleichheit und Solidarität miteinander zu teilen. Ich begnüge mich damit, meine Erfahrungen an sie weiterzugeben, wie ich es oft tue, in der Hoffnung, dass sie von Nutzen sein werden.