Russland brauche die chemischen Formeln und medizinischen Dokumente, forderte Maria Sacharowa. „Legt eure Angaben auf den Tisch, übergebt sie der russischen Seite, unsere Botschaft arbeitet rund um die Uhr!“ Die russische Außenamtssprecherin klang so, als wäre Alexej Nawalny in Deutschland vergiftet worden und als hätten deutsche Ärzte tagelang seinen Transport nach Russland behindert.

Aber tatsächlich ereignete sich der Anschlag auf Nawalny vor zwei Wochen in Tomsk, er wurde nach längerem Tauziehen auf Wunsch seiner Frau nach Deutschland ausgeflogen. Und wie am Donnerstag ein Labor der deutschen Bundeswehr festgestellt hat, wurde der führende russische Oppositionspolitiker mit einem chemischen Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet.



Ausgerechnet Nowitschok. Das Nervengift kam schon 2018 im englischen Salisbury gegen den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter zum Einsatz, zwei identifizierte Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU sind dringend tatverdächtig. Die Chemikalie stellt man in staatlichen Speziallabors her. Die Marke „Nowitschok“ bestätigt noch einmal, was in Russland schon vorher als ziemlich sicher galt: Der Staat ist an dem Giftanschlag gegen Nawalny beteiligt, der als Oppositionsführer sehr penetrant vom Staatssicherheitsdienst beschattet und kontrolliert wurde. Oder, wie es Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow ausdrückt: „Nowitschok – das ist Putin.“



Schon nach dem Poloniumgiftmord 2006 an Alexander Litwinenko, einem nach London exilierten Ex-Geheimdienstler und erbittertem Putin-Kritiker, hatte ein britischer Richter als Ergebnis jahrelanger Ermittlungen verkündet: Wahrscheinlich sei Litwinenko mit der Zustimmung des russischen Staatschefs getötet worden. Dem Kreml droht nun der nächste internationale Skandal inklusive Sanktionen. Und Putin persönlich ein immer giftigeres Image.

Auf jeden Fall setzen seine Geheimdienste die tödlichen Traditionen ihrer sowjetischen Vorgänger fort. Diese ermordeten opponierende Bischöfe mit Curare-Spritze, schütteten in den Westen übergelaufenen Kollegen Rattengift in den Kaffee,bliesen ukrainischen Exilnationalisten Zyankali ins Gesicht. Und Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenyzin musste nach einem Ryzin-Anschlag eine schwere Hautkrankheit überstehen.
Unter Putin ging es weiter. 2003 verbrannte eine rätselhafte allergische Krankheit dem Journalisten Juri Schtschekotschichin von der oppositionellen Enthüllungszeitung „Nowaja Gaseta“ regelrecht Haut und Lungen.

Gift schwer zu dosieren

Seine Redaktionskollegin Anna Politkowskaja verlor 2004 nach einer Tasse Tee das Bewusstsein, überlebte, die Ärzte, die sie behandelten, stellten ein unbekanntes Toxin in ihrem Körper fest. Zwei Jahre später wurde sie in Moskau erschossen. Ihr Chefredakteur Dmitrij Muratow sagt, auch Nawalny habe nur zufällig überlebt. „Alle Experten haben uns versichert, dass man ein Gift nicht so dosieren kann, dass es den einen tötet, dem anderen nur Angst einjagt.“ Das gilt etwa für die Neurotransmitter, mit denen man 2018 den Aktionskünstler Pjotr Wersilow vergiftet hat; er wurde wie Nawalny in der Berliner Charité behandelt. Und es gilt für Nowitschok: Schon ein Milligramm, der Bruchteil eines Wassertropfens, kann einen erwachsenen Mann töten. Nawalny war schon vorher mehrfach angegriffen worden. Anfangs schüttete man ihm Farbstoff in die Augen, vergangenes Jahr kam er mit schweren allergischen Symptomen aus einer Arrestzelle ins Krankenhaus. In Tomsk sollte er sterben.

"Sicherheitsorgane"

Nawalny ist das jüngste Opfer eines seit Jahrzehnten arbeitenden Giftmordsystems. Der Petersburger Politologe Dmitri Trawin hält es übrigens nicht für sicher, dass Putin eingeweiht war. „Es gibt im Kreml verschiedene Türme und in Russland verschiedene Geheimdienste. Wer Nawalny aus welchen Gründen vergiftet hat, wissen wir nicht.“ Aber er vermute, die Täter seien Leute aus den Sicherheitsorganen, die davon profitieren wollten, dass sich das Verhältnis zum Westen noch verschlechtere. Der Kreml aber scheint sie auch dieses Mal zu decken, mit allen seinen Türmen.