Das Europaparlament stimmt heute über den Start eines Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn ab – weil die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei die Grundwerte der EU systematisch verletze. In diesem Zusammenhang fordern Linke, Grüne und Sozialdemokraten lauter denn je, was sie immer schon wollten: Die christdemokratische Parteienfamilie EVP möge Orbán und Fidesz doch bitte die Tür weisen.

EVP-Fraktionschef Manfred Weber wählte gestern in Straßburg seine Worte mit Bedacht, beschwichtigte vorausblickend mit dem Vermerk, dass auch ein Artikel-7-Verfahren einen Dialog einleite. Wenige Minuten zuvor hatte Orbán im Plenum verbal weit ausgeholt.

Mehrfach erklärte er, das Verfahren würde sich gegen das ungarische Volk richten und nicht gegen die Regierung: Ungarn würde seit 1000 Jahren mit Blut und Arbeit für Europa kämpfen und jetzt doch unter Anklage stehen – als Revanche für seine strikte Haltung gegenüber Migranten. Alles im Sargentini-Bericht sei Lüge, 37 Punkte falsch. Dem widersprachen viele andere Redner in der Folge allerdings entschieden – auch aus der EVP.

Ungarns überproportionales Gewicht in der EVP

Tatsächlich gibt es schon lange Stimmen in der EVP, die für einen Austritt der Fidesz plädieren. Als der Artikel-7-Antrag im Justizausschuss des Europaparlaments (LIBE) abgesegnet wurde, stimmte die Hälfte der anwesenden EVP-Abgeordneten dafür. Auch in der Plenarabstimmung ist der Ausgang nur deswegen ungewiss, weil die EVP in dieser Frage tief gespalten ist. Stünde sie geschlossen zu Orbán, hätte der Antrag keine Chance auf Erfolg.

Es ist nicht nur eine intellektuelle oder moralische Debatte. Die Fidesz-Abgeordneten sind wichtig für die EVP. Ungarn ist zwar klein, aber Fidesz ist darin groß und stellt alleine 11 der 21 ungarischen Abgeordneten im EP. Zusammen mit dem Koalitionspartner KNPD und befreundeten Parteien der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern stellen die Ungarn gar 15 der insgesamt 218 EVP-Abgeordneten. Zum Vergleich: Die CDU/CSU ist mit 34 Abgeordneten vertreten. Orbáns Gewicht in der EVP ist also im Verhältnis zur Größe Ungarns überproportional groß.

Und er denkt zur Zeit sehr intensiv darüber nach, wo er dieses Gewicht am besten zur Geltung bringen kann. Es muss nicht in der EVP sein.

Verlockung Rechtsbündnis

In einer Rede am 16. Juni in Budapest bezeichnete Orbán es erstmals öffentlich als „Verlockung“, die EVP im Regen stehen zu lassen – freilich mit dem Zusatz, er wolle dieser Versuchung widerstehen. Ganz nebenbei erwähnte er zwei Optionen, die diese Perspektive so verlockend machten. Die eine wäre eine neue nationalkonservative Parteienfamilie mitteleuropäischer Staaten. Die andere: ein europaweites Bündnis migrationsfeindlicher Parteien, wie von Italiens Innenminister Matteo Salvini vorgeschlagen.

Immerhin nennt Salvini Orbán sein „Vorbild“, und Orbán Salvini seinen „Helden“. Die beiden gemeinsam könnten Europa gehörig aufmischen. „Es gibt keinen Zweifel, dass wir bei den Europawahlen 2019 großen Erfolg haben würden“, sagte Orbán. Freilich wolle er stattdessen lieber die EVP von innen ändern, sie zur wahren Christdemokratie „zurückführen“.

Doch was passiert, wenn die EVP sich nicht orbánisieren lässt? Es klang nur oberflächlich beruhigend, als er feststellte, er wolle nicht mehr Einfluss in der EU. Dafür sei Ungarn zu klein und realitätsbewusst. Am 24. Juli machte Orbán eine scheinbar beiläufige Bemerkung mit Orakel-Charakter. Da war er zu Besuch in Montenegro, und lobte das Land, dessen EU-Beitrittskandidatur weit fortgeschritten ist, als Teil Mitteleuropas.

Schreckgespenst "Ost-EU"

Insofern habe Montenegro die Chance, auch Bestandteil der „wirtschaftlich stärksten“ Region Europas und „eines Tages Teil einer gemeinsamen Wirtschaftszone zu werden“. Aber er sagte nicht „EU“, sondern benutzte eben diese Vokabel, die im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Visegrád-Länder, ihre Infrastruktur zu vernetzen und ihre wirtschaftliche Kooperation zu verstärken, plötzlich die Frage aufwarf: Bauen die Visegrád-Länder an einem Sicherheitsnetz, falls die EU weiter zerfällt? Kommt eine losgelöste Ost-EU?

Am 28. August formulierte Orbán dann in einer Rede in Siebenbürgen „fünf Mitteleuropa-Thesen“. Er sprach von der Aufgabe, „Mitteleuropa aufzubauen“, dort eine „große, starke, politisch sichere Wirtschaftsregion“ zu errichten. Da war es wieder, dieses Wort. Wirtschaftsregion. Er wolle ein Mitteleuropa aufbauen, das „anders ist als Westeuropa“.

Die fünf Thesen von Siebenbürgen

Die Thesen: Jedes Land habe das Recht, Multikulturalismus abzulehnen, die christliche Kultur und das traditionelle Familienmodell zu pflegen, seine strategischen Märkte und Industrien zu schützen und seine Grenzen gegen Migranten zu verteidigen. Jedes Land habe das Recht, in wichtigen Fragen auf dem Prinzip „eine Nation, eine Stimme“ zu bestehen, was auch nicht in der EU umgangen werden dürfte.

Orbán ist überzeugt davon, nur gewinnen zu können – entweder wird er mehr Einfluss in Europa bekommen als starker Mann einer geschrumpften EVP. Oder er wird zum König einer neuen Parteienfamilie – Salvinis neue Antimigrationsbewegung wäre auch ohne Orbán eine Orbán-Partei. Aber wenn er sich ihr anschließen würde, wäre er ihr König, eine Art Revolutionsführer in der EU