Immer mehr Wähler und Wählerinnen – die Reihenfolge der Geschlechter ist an dieser Stelle Absicht – entscheiden sich in liberalen Demokratien bei freien, gleichen und geheimen Wahlen für Parteien und Bewegungen an den extremen Rändern. Der Wahlsonntag in den beiden ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen, wo die laut dem deutschen Verfassungsschutz in Teilen rechtsextreme AfD einmal klar stimmenstärkste und einmal knapp auf Platz zwei kam, hat das einmal mehr deutlich vor Augen geführt. Zudem ist das politische Startup der ehemaligen Linken-Frontfrau Sahra Wagenknecht mit einem hybriden Mix aus links- und rechtspopulistischen Ansagen aus dem Stand zweistellig geworden. Und Ostdeutschland ist kein Ausreißer auf der Wahlkarte, wie Frankreich, Italien, die USA belegen – und in vier Wochen wohl auch Österreich.
Wer ist verantwortlich für die Stärkung der extremen Ränder?
Wer trägt die Verantwortung für diese Entwicklung weg von der breiten politischen Mitte hin zu den radikalen Rändern: Die radikalen Parteien und Bewegungen, die nun auf einer Welle surfen? Die Wähler und Wählerinnen, die dem politischen Zentrum die Gefolgschaft aufkündigen? Die Umstände unserer Gegenwart, die mit einer potenziell explosiven Themenlage aus sozialer Verunsicherung, neuen Kriegsängsten, der Allgegenwart islamistischer Terrorgefahren sowie der Angst vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität? Oder am Ende doch das Unvermögen der Mitte, diese – manchmal sehr handfesten, mitunter aber auch nur diffusen – Sorgen und Ängste glaubwürdig anzusprechen und, das ist das Wichtigste, politische Antworten und Lösungen nicht nur anzubieten, sondern auch handfest umzusetzen?
Demokratie ist nicht dazu da, Politikern das Leben zu erleichtern. Wahlen sind Stimmungsbarometer, Zeugnisvergabe und Grundlage für die Machtzuteilung für die kommende Legislaturperiode. In diesem Sinne wurden in Deutschland soeben die Ampel-Parteien der Bundesregierung in Berlin nicht nur gewogen und für zu leicht empfunden, sondern in einem geradezu atemraubenden Ausmaß abgestraft.
Politik muss immer Alternativen anbieten
Aber wer schützt unsere Freiheiten und Grundrechte vor möglichen oder tatsächlichen Antidemokraten? In erster Instanz die liberalen Institutionen wie Gerichte und Verfassungshüter, Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz, das Demonstrationsrecht und freie Medien sowie die Möglichkeit, Parteien und Bewegungen zu erneuern und zu gründen und mit diesen bei Wahlen anzutreten.
Die politische Mitte muss entweder wieder anfangen, sich als handlungsfähige und -willige Gestaltungskraft mit Blick auf die Ängste und Sorgen der Menschen zu verstehen – oder sie riskiert ein Rendezvous mit dem eigenen Untergang. Zu behaupten, zur bestehenden Politik, egal, wie diese konkret aussieht, gäbe es „keine Alternative“, ist für sich genommen die Verweigerung von Politik, denn Politik besteht in der Suche nach und der Auswahl zwischen Alternativen.
Darin liegt eben gerade auch der eminente Stellenwert der Opposition in der Demokratie. Man stelle sich vor, die CDU/CSU würden das Migrationsthema den rechten Rändern überlassen? Parteien müssen aber für ihre Überzeugungen und Positionen werben und durch Argumente und Handlungen überzeugen. Dämonisieren, Dekretieren und Behaupten allein reicht nicht (mehr). Ansonsten hätten Wahlen nur noch den Zweck der friedlichen Machtablöse, nicht aber der inhaltlichen Weichenstellung auf Grundlage von demokratischen Mehrheiten.
Das bedeutet nicht, die Wähler und Wählerinnen von ihrer Verantwortung für die Verfasstheit ihrer Demokratie loszusprechen. Aber die Bürger sind der Souverän, kein unfehlbarer zweifellos, aber eben doch der Souverän. Die Politik muss liefern – oder sie wird eben abgewählt.