Armin THURNHER: Man darf am Ende eines Jahres, an dem man noch da ist, nicht unzufrieden sein. Das gehört vielleicht zum Besten, das man über dieses Jahr sagen kann: Wir haben es – wenn dieser Kommentar nicht vorschnell erscheint – hinter uns. Außerdem sah man einiges ja schon im Vorjahr kommen. Wenngleich es Donald J. Trump in seiner zweiten Präsidentschaft schaffte, die ohnehin niedrig liegende Latte doch noch in die Erde zu stampfen.
Michael FLEISCHHACKER: Ja, es war ein schwieriges Jahr, und ich fürchte, in absehbarer Zeit wird es nicht besser werden. Mir kommt in letzter Zeit öfter einmal Stefan Zweig in den Sinn. Was er in „Die Welt von Gestern“ beschreibt, ist uns wohl in den vergangenen Jahren auch passiert: Das Herausfallen aus den Sicherheiten, die wir nach der Zeitenwende von 1989 für irreversibel gehalten haben, ist zwar nicht erst 2025 bemerkbar geworden, aber es scheint sich auf eine Weise zu beschleunigen, die mich nicht gerade optimistisch stimmt.
THURNHER: Dass Sie Stefan Zweig erwähnen! Ich habe gerade ein Buch abgeschlossen, das den Titel „Unsternstunden der Menschheit“ trägt. An denen hat es 2025 nicht gefehlt. Erinnern Sie sich an die Inaugurationsszene des Donald J. Trump? Da war schon allerhand drin, was sich anschließend bewahrheitet hat – oder was wäre das Gegenteil von bewahrheitet? Denn dieses Wort wird man mit diesem Mann nicht in Zusammenhang bringen wollen. Wir sind also offenbar in ein Zeitalter eingetreten, wo die letzten Reste von Vertrauen in das schwinden, was man einst öffentlich nannte.
FLEISCHHACKER: Ich habe ehrlich gestanden keine genaue Erinnerung an die Inauguration, weiß also im Moment nicht, was konkret Sie meinen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir das globale Geschehen und den von Ihnen konstatierten Vertrauensverlust in das Öffentliche durch die Fixierung auf den amerikanischen Präsidenten und seine Verhaltensoriginalität in seiner Gesamtheit erfassen. Ist Trump denn die Ursache für den massiven Verlust an Gewissheiten und Gewohnheiten, oder ist er nicht vielmehr ein Symptom?
THURNHER: Ich weiß nicht mehr, lieber Fleischhacker, wie wir solche Symptome davon trennen sollen, dass sie auch zu Ursachen werden. Weil wir nämlich das Symbol akzeptieren und nicht zurückweisen, wird es wirkmächtig und geradezu zu einem neuen Standard. Die Inauguration Trumps war jene Zeremonie im Kongress, wohin wegen Schlechtwetters ausgewichen werden musste, bei der Trump in bisher ungesehener Weise seine Vorgänger demütigte und beleidigte, bei der er die digitalen Machthaber des Silicon Valley als seine Sykophanten antreten ließ, und bei der er sein reaktionäres Programm und sich selbst auf schauerlich primitive Weise feierte. Die Zeremonie sagte uns, wir treten in das Zeitalter der Autokratie ein, wo Konventionen, Manieren und Zivilisation im Allgemeinen nichts mehr gelten.
FLEISCHHACKER: Ich möchte Ihnen Ihre Trump-Obsession nicht ausreden, könnte ich wohl auch gar nicht, aber wenn Sie recht damit haben, dass seine abermalige Wahl den Eintritt in das Zeitalter der Autokratie markiert, drängt sich mir die Frage auf, ob dieses Zeitalter nicht angebrochen wäre, wenn die Wähler in den Vereinigten Staaten sich für Kamala Harris entschieden hätten oder gar Joe Biden im Rennen geblieben und wiedergewählt worden wäre. Wäre dann alles gut?
THURNHER: Natürlich nicht. Aber das offensive Geschmuse mit Wladimir Putin, die ostentative Degradierung der EU zur unliebsamen Konkurrenz statt zum Alliierten, die Demontage der amerikanischen Institutionen selbst, das Ersetzen von Wissenschaft durch Quacksalberei (Robert F Kennedy!), das Unterlaufen des Rechtssystems und das erratische Abschießen unliebsamer Subjekte nach Gusto hätte ich mir ganz gern erspart, zumal in den USA, an die wir uns als Wächter unserer Demokratie gewöhnt hatten (obwohl, werden Sie sagen, auch Barack Obama im Ferntöten nicht zimperlich war). Aber ja, sonst wäre alles gut. Und wäre der Kickl hinübergefahren, statt das Wie-werde-ich-nicht-Kanzler-Spiel zu spielen, hätten wir den auch noch am Hals.
FLEISCHHACKER: Viele Beobachter, die von Donald Trump ähnlich wenig halten wie Sie, sehen auf der positiven Seite immerhin die aus der Notwendigkeit geborene Chance, dass sich die Europäer emanzipieren und ihre Demokratie in Zukunft selber bewachen, durchaus auch im militärischen Sinn. Der deutsche Ökonom Hans Werner Sinn zum Beispiel plädiert in seinem aktuellen Buch für einen „europäischen Bund“, der die Sicherheit des Kontinents autonom, aber ohne die institutionellen Fesseln der EU und ihres Einstimmigkeitsprinzips garantieren soll. Können Sie solchen Überlegungen etwas abgewinnen?
THURNHER: Ja und nein. Der Kontinent „ohne institutionelle Fesseln“ ist bloß ein argumentativer Trick für Renationalisierung. Das Einstimmigkeitsprinzip allerdings muss weg. Man kann es also als positives Ergebnis Trump’schen Realismus nehmen, dass sich Europa weiter militarisieren muss (ganz schutzlos sind wir ja nicht). Das wusste man aber schon vorher. Und eine solcherart lebensfähige EU sollte wohl die Ukraine mit einschließen, als souveränen Staat, nicht als russischen Vasallen, oder?
FLEISCHHACKER: Ich glaube nicht, dass die Ukraine in absehbarer Zeit EU-Mitglied werden könnte, ohne die EU in ihrer Existenz zu gefährden, aber ich hoffe, dass es gelingt, sie nicht zum russischen Vasallen werden zu lassen. Wie, weiß ich allerdings nicht, ich bin nicht sehr optimistisch, nicht nur in Bezug auf die Ukraine, sondern überhaupt. Die Welt ist in einem ziemlich chaotischen Zustand, und derzeit habe ich nicht den Eindruck, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird.
THURNHER: Ja, für diesen Gemütszustand gibt es ausreichend Anlässe. Ich denke aber, die existenzielle Frage, wie Europa überlebt, lässt so etwas wie ein europäisches Selbstbewusstsein aufkommen. Oder sollte es aufkommen lassen: dafür sind Krisen schließlich gut. Unsere europäischen Errungenschaften von Kultur bis Sozialstaat, der Zustand unserer Infrastruktur und die Kultur unserer Küchen sind dazu angetan, und wenn Sie ökonomischen Trost suchen, ist die europäische Produktivität der US-amerikanischen überlegen. Also, Kopf hoch, lieber Fleischhacker!
FLEISCHHACKER: Danke für die Ermutigung. Ich suche selten Trost, aber immer Erkenntnis, und das ist nicht unbedingt leichter geworden in diesem Jahr. Vielleicht klärt sich ja der Nebel, der dieser Tage leider auch unsere schöne Wienerstadt so grimmig im Griff hat, rund um den Jahreswechsel, und es stellt sich doch noch Optimismus ein. Ich hätte nichts dagegen.