Nach dem Terroranschlag in Wien hat die Analyse zahlreicher Handyvideos vom Tatort bisher keinen Hinweis auf weitere Attentäter ergeben. Das sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Dienstagnachmittag in einer Pressekonferenz. Die hohe Sicherheitsstufe für die Bundeshauptstadt blieb weiter aufrecht. "Wir wollen ausschließen, dass es einen zusätzlichen Täter gibt", sagte Nehammer.

Da die Auswertung der Videos - etwa die Hälfte wurde bisher gesichtet - noch nicht abgeschlossen ist, "können wir noch nicht final sagen, wie viele Täter tatsächlich für das Verbrechen verantwortlich sind", so der Minister. Deshalb gebe es auch weiterhin verstärkte Polizeipräsenz in der Bundeshauptstadt. Denn gerade jetzt gebe es eine sensible Phase, "dass es nicht zu einer Wiederholungs- bzw. Nachahmungstat kommt", betonte er. Ob auch am Mittwoch die Unterrichtspflicht an den Schulen ausgesetzt wird, müsse erst besprochen werden. Aus Bildungsministerium und -direktion hieß es zur APA, es werde vorbehaltlich anderer Vorgaben aus den Sicherheitsbehörden wieder ein normaler Schultag an den Wiener Schulen geplant.

Vier Menschen und der Täter waren am Montag getötet worden, insgesamt 22 weitere Menschen verletzt, so Nehammer. Die Divergenz zu den zuvor veröffentlichten niedrigeren Verletztenzahl resultiere daher, dass im Einsatzzeitraum als die Terrorlage besonders bedrohlich war die Rettungskräfte rasch agiert hatten und die Verwundeten auf die unterschiedlichsten Spitäler in Wien aufgeteilt worden waren. Es habe Zeit gebraucht, "alle verwundeten Personen dem Terroranschlag zuzuordnen". Den Angehörigen der Opfer sprach der Minister sein "aufrichtiges Beileid und tiefe Anteilnahme" aus. Der angeschossene Polizist wurde operiert, sein Gesundheitszustand sei stabil, sagte Nehammer.

Die Helden von Wien

"Kein Terroranschlag wird es schaffen, dass unsere Gesellschaft im Zusammenhalt zerrissen oder gespaltet wird", sagte der Innenminister. Als positives Beispiel in diesem schrecklichen Fall betonte Nehammer, dass der verletzte Polizist von zwei Österreichern mit Migrationshintergrund in Sicherheit gebracht wurde. "Wenn Menschen glauben, mit Gewalt, Terror und Angst eine Gesellschaft spalten zu können, ist es wichtig zusammen zu stehen, klar zu machen dass Grund- und Freiheitsrechte unteilbar sind und die Toleranz für ein Zusammenleben in Österreich ein unteilbares Gut ist", bekräftigte der Innenminister.

Innerhalb von neun Minuten sei der Attentäter am Montagabend durch das schnelle Eingreifen der Exekutivkräfte neutralisiert worden, sagte Nehammer. "Durch den entschlossenen Einsatz ist es gelungen, Schlimmeres zu verhindern." Beim Anschlag war der 20-Jährige mit einer verkürzten Kalaschnikow, einem Sturmgewehr, einer Faustfeuerwaffe und einer Machete ausgerüstet. "Mit all diesen Mordwerkzeugen hat er seinen brutalen Anschlag auf unschuldige Bürgerinnen und Bürger ausgeübt."

Im Umfeld des 20-jährigen Täters fanden in Wien und Niederösterreich 18 Hausdurchsuchungen statt, 14 Personen wurden vorläufig festgenommen. In der Wohnung des Attentäters in Wien wurden Munitionsteile sichergestellt. Außerdem wurde umfangreiches weiteres Beweismaterial beschlagnahmt, das erst ausgewertet werden muss. Es gebe aber bereits ein "klares Indiz zur Nähe zum Islamischen Staat (IS)", sagte Nehammer bei der Pressekonferenz. Der 20-Jährige habe ein dementsprechendes Facebook-Posting veröffentlicht.

Dazu kamen die weiteren Hausdurchsuchungen im Umfeld des Täters und bei Bekannten. "Die Beweismittel werden aktuell gesichtet und ausgewertet", sagte der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf. Die 14 Festgenommenen wurden am Dienstagnachmittag noch einvernommen. Sie stammen aus dem Bekannten- und Freundeskreis des 20-Jährigen. Nach ersten Erkenntnissen gab es keine Hinweise, dass sie aktiv in den Anschlag involviert waren.

Fülle von Hinweisen

Nehammer übte deutliche Kritik an dem Umstand, dass der erschossene Attentäter vorzeitig aus einer 22-monatigen Haftstrafe bedingt entlassen worden war. Der 20-Jährige habe es geschafft, "das Deradikalisierungsprogramm der Justiz zu täuschen." Es bedürfe daher einer "Evaluierung und Optimierung des Systems". Nach dem verheerenden Terroranschlag wird in unserem System eine Bruchlinie sichtbar, konstatierte Nehammer. "Es kam zu einer vorzeitigen Entlassung eines Radikalisierten". Auch wenn alle nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet hätten, der Täter habe das System getäuscht. Aus Sicht des Innenministeriums bedürfe es daher einer Evaluierung.

Der Täter war im April 2019 in Wien wegen terroristischer Vereinigung (§ 278 b StGB) verurteilt worden, nachdem er beim Versuch aus dem Verkehr gezogen worden war, nach Syrien zu reisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Bereits Anfang Dezember wurde er gegen Auflagen auf freien Fuß gesetzt und bekam einen Bewährungshelfer sowie eine Betreuung des auf Deradikalisierung radikalislamistischer Straftäter spezialisierten Vereins Derad beigestellt. Geschickt dürfte er beiden die Abkehr von der IS-Ideologie vorgetäuscht haben. Gegenüber dem Bewährungshelfer habe er sich "besonders bemüht" gegeben, stellte Nehammer fest. Bei den Terminen mit Derad sei er bestrebt gewesen, nach außen hin dem Bild eines in die Gesellschaft integrierten jungen Mannes zu entsprechen. In Wahrheit habe der 20-Jährige "ganz bewusst das System zerstören" wollen, bemerkte Nehammer.

Informationen der APA nach soll der 20-Jährige vor wenigen Tagen - Ende Oktober - einen Termin bei Derad absolviert haben. Dabei habe er explizit die jüngsten Terroranschläge in Frankreich verurteilt, hieß es. In Wahrheit gebe es aber "eine Fülle von Hinweisen auf seine Radikalisierung", betonte der Generaldirektor für die Öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, bei der Pressekonferenz im Innenministerium.

"Es gibt niemals einen absoluten Anspruch auf Sicherheit, auf die absolute Sicherheit eine Person richtig einschätzten zu können", konstatierte der Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl. Er hoffe, dass in den nächsten Stunden immer mehr Licht ins Dunkel kommt und der Fall restlos aufgeklärt werden könne.

Nehammer betonte, der Tatort - das Ausgehviertel Bermudadreieck - sei normal "einer der vergnüglichsten Orte in Wien". Dass die Innenstadt am Tag nach dem Anschlag menschenleer gewesen sei, war nur vorübergehend, sagte er. "Wir lassen uns unsere Lebensfreude, unsere Freiheit, unsere Toleranz, unser gemeinsames Leben in Österreich und in der Bundeshauptstadt sicher nicht durch Gewalt zerstören. Alle, die glauben, zu Radikalisierung, zu diesen Mitteln greifen zu müssen, müssen mit der vollen Konsequenz, Klarheit und Härte des Rechtsstaats rechnen."