Wenn Timothée Chalamet als Bob Dylan in „A Complete Unknown“ erstmals auf der Leinwand auftaucht, erscheint er als zerlumpter Halbwüchsiger mit einer Huckleberry-Finn-Mütze und einer abgetragenen Jacke, die drahtigen Schultern hochgezogen, als würde er sich gegen bittere Winde wappnen oder vielleicht den Mut sammeln, die Welt zu erobern. Es ist 1961, als Dylan, gerade einmal 19 Jahre alt, aus Minnesota in New York ankommt. Er legt seinen Geburtsnamen Robert Zimmerman ab und ist noch komplett unbekannt, wie es der Filmtitel sagt.
Der Schlüssel zum Erfolg eines jeden Biopics ist die Bereitschaft des Publikums, einen Schauspieler in der Rolle einer real existierenden Person zu akzeptieren. In dieser Hinsicht mag Timothée Chalamet eine seltsame Besetzung sein. Physisch ähnelt der 29-Jährige Bob Dylan nicht mehr als oberflächlich, ihm fehlt dessen markante Nase, die schlaffen Augen oder die wulstigen Gesichtszüge.
Doch als ich Chalamet bei einer Filmvorführung in London treffe, sagt er etwas Bemerkenswertes über Dylans Präsenz: „Elvis Presley, Mick Jagger, Paul McCartney, John Lennon, all diese Götter der Kultur, mit denen kann man leicht ein Gesicht assoziieren, weil es so viele Fotos und Filme über sie gibt“, sagte Chalamet. „Aber bei Bob Dylan ist das ungleich schwerer.“
Ein Akt der Selbstverwandlung
Was sich über die zwei Stunden und 20 Minuten des Films entfaltet, ist ein Akt der Selbstverwandlung des großartigen Schauspielers Chalamet, der sich dafür am 2. März in L. A. einen Oscar als bester Darsteller abholen könnte. Eine Schlüsselszene spielt passenderweise in einem Kino, wo sich Dylan und seine Freundin Sylvie Russo (Elle Fanning ) das Melodram „Reise aus der Vergangenheit“ von 1942 anschauen, in dem sich Bette Davis als verunsicherte Tochter aus bestem Hause zu einer selbstbestimmten Frau entwickelt. Russo merkt an, dass Davis‘ Figur auf einer Reise ist, um sich selbst zu finden. „Sie hat sich nicht gefunden“, bemerkt Dylan. „Sie hat sich einfach in etwas anderes verwandelt.“ Das ist etwas, das Dylan sein ganzes Leben lang getan hat.
Ich fragte einmal Joan Baez, wie gut sie Dylan zu kennen glaubt. Sie lächelte und sagte ganz ernsthaft: „Bobby ist unergründlich.“ Wenn das Baez denkt, die ihn fast sein ganzes Erwachsenenleben kennt, welche Chance hat dann ein Filmemacher oder Schauspieler, hinter Dylans Fassade zu blicken? Der nachdenkliche Film von Autor und Regisseur James Mangold, der auch das mit einem Oscar prämierte Johnny-Cash-Biopic „Walk the Line“ von 2005 mit Joaquin Phoenix drehte, versucht erst gar nicht, das Rätsel Dylan zu lösen, sondern vielmehr, dessen Vielgestaltigkeit zu zeigen.
Der von Timothée Chalamet in „A Complete Unknown“ dargestellte Bob Dylan steht in den 1960er-Jahren am Anfang seiner musikalischen Reise, ist aber bereits ein knorriger, selbstbewusster Kerl: „Er war zu der Zeit so konfrontativ in seiner Haltung, so querköpfig. Als meine eigene Karriere begann, war ich hingegen total brav. Zu sehen, wie widersprüchlich Dylan in diesem Alter war, imponierte mir sehr.“
Lob von Bob Dylan
Bob Dylan, der schon mit 24 viele seiner wichtigsten Songs geschrieben hatte, 2016 den Literaturnobelpreis erhielt und im Mai 83 wird, schickte dem Biopic Ermutigendes voraus, wenn auch in einer für ihn typisch mehrdeutigen Nachricht auf der Social-Media-Plattform X. „Timmy ist ein brillanter Schauspieler, also bin ich sicher, dass er als mein Ich völlig glaubwürdig sein wird. Oder als jüngeres Ich. Oder als irgendein anderes Ich.“
Für Chalamet, der für diese Rolle 30 Dylan-Songs lernte, war das „ein starker Antrieb“. Für Regisseur Mangold wiederum war es entscheidend, dass Chalamet und alle im Team, die reale Personen spielten, die Freiheit haben sollten, ihre eigenen Charaktere in ihre Rollen einzubringen. „Timothée ist außergewöhnlich klug, so dass er sehr fokussiert in seine Figur eintauchen konnte.“ Auch deswegen gelingt „A Complete Unknown“ ein so lebendiger wie unterhaltsamer Einblick in eine andere Seite von Bob Dylan, anstatt bloß ein Porträt zu liefern. „Wer ist Bob Dylan?“, fragte der Sänger selbst 1986 auf einer Pressekonferenz einmal und lieferte gleich die Antwort dazu: „Ich bin nur Bob Dylan, wenn ich Bob Dylan sein muss. Die meiste Zeit kann ich einfach ich selbst sein.“ Wer auch immer das ist.