Mit einem Selfiestick bewaffnete chinesische Touristen machen eine Führung. Sie lachen, sie staunen, sie machen Fotos. So weit, so normal. Nur dass die Familie diese Fremdenführung in ihrer eigenen Wohnung macht. Videos von Reisen durch die eigenen vier Wände flirren in Zeiten des Coronavirus, in der gefühlt die ganze Welt Hausarrest hat, durch soziale Netzwerke. Ein Trend, den es vor mehr als 200 Jahren schon einmal gab – nur damals noch ganz analog auf dem Papier. Der deutsche Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler hat dem Phänomen der Zimmerreisen in seinem Buch „Reisender Stillstand“ nachgespürt.

Zimmerreisen erleben in Zeiten des Coronavirus eine Renaissance. Wo liegt ihr Ursprung?
BERND STIEGLER: Entstanden ist das literarische Genre der Zimmerreisen tatsächlich in einer ganz ähnlichen Situation wie jetzt. Als Urvater gilt der französische Schriftsteller und Offizier Xavier de Maistre. Wegen eines verbotenen Duells wurde er 1790 zu 42 Tagen Hausarrest verurteilt. In seiner Misere hat er damit begonnen, sein Zimmer zu erkunden – dazu zog er sich sogar jeden Tag Reisekleidung an – und seine Erlebnisse aufzuzeichnen. Wie er auf die Idee gekommen ist, das weiß man nicht, aber ich nehme an, es wird ihm schrecklich langweilig gewesen sein. Sein Buch „Reise um mein Zimmer“ wurde ein Überraschungserfolg und hat einen Trend gesetzt, der viele Nachahmer gefunden hat.



Was haben andere Zimmerreisende erkundet?
STIEGLER: Zum Beispiel ihren Garten, aber auch wesentlich kleinere Räume wie ihren Schreibtisch, eine Schublade oder ihre Tasche.

Was kann man auf einer Zimmerreise erleben?
STIEGLER: Da ist es wie bei einer echten Reise – was man erlebt, das hat man selber in der Hand. Man kann an den exotischsten Ort der Welt reisen und das Hotel nicht verlassen. Oder man kann die eigenen vier Wände mit neuen Augen wahrnehmen. Man selbst ist der Reiseleiter auf einer Erkundung des eigenen Raums und nicht zuletzt ins eigene Ich. Jeder, der schon einmal umgezogen ist, kennt den Effekt: Wenn man die Dinge in seiner Wohnung in die Hand nimmt, um sie einzupacken, fällt einem plötzlich vieles ein, was man damit verbindet: Menschen, Emotionen, Erinnerungen, eben die Geschichten dahinter.

Man muss seine Koffer nicht packen – aber was braucht man für eine Zimmerreise?
STIEGLER: Das wichtigste Reiseutensil ist die eigene Wahrnehmung. Die muss man schärfen, um Gegenstände, die zur Gewohnheit geworden sind, wieder länger anschauen zu können. Ein Stift und ein Zettel sind hilfreich, um sich Notizen zu machen oder zu zeichnen und so eine Distanz zu den Dingen herzustellen. Man kann aber natürlich auch digitale Medien nutzen, fotografieren oder filmen.

Wie merkt man, ob man auf dem richtigen Weg ist?
STIEGLER: Man braucht Geduld, die Gegenstände so lange anzuschauen, bis sie quasi zurückblicken. Das ist in Zeiten drohenden Lagerkollers wahrscheinlich das Schwierigste. Aber auch lohnend, wenn es gelingt.

Wohin haben Sie Ihre eigenen Zimmerreisen geführt?
STIEGLER: Mein Buch über Zimmerreisen habe ich vor mehr als zehn Jahren geschrieben und ich muss zugeben, dass ich selbst bisher noch nie eine gemacht habe. Aber jetzt habe ich die Zeit dafür. Ich befasse mich jeden Tag mit einem neuen Gegenstand in meiner Wohnung, mache davon ein Foto, schreibe einen Text dazu und poste das dann auf Facebook. Zum Beispiel über die Tür meines Kühlschranks, auf der viele verschiedene Magnete haften. Oder über mein Sofa. Ich bin jetzt seit sieben Tagen zu Hause, also noch am Anfang meiner Reise.

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