Mehr als 20 Prozent der Erwachsenen leiden in Österreich an chronischen Schmerzen. „Für 350.000 bis 400.000 Österreicher ist schwerer Schmerz ein Dauerbegleiter“, sagt die Vizepräsidentin der österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), Waltraud Stromer. Führend in der Liste der häufigsten Schmerzerkrankungen seien chronische Rücken- und Kopfschmerzen, Schmerzen der großen Gelenke und des Nackens. „Über Schmerzepisoden berichten eher ältere Menschen, die in der aktuellen Pandemie ohnehin schon zur Risikogruppe gehören“, erklärt die Medizinerin und setzt nach: „Aber auch Angst und Depressionen erhöhen das Risiko, dass Schmerzen chronisch werden. Und die Ausgangsbeschränkungen der vergangenen Wochen haben natürlich auch Angstzustände und Depressionen gefördert.“

Der Schmerzmediziner Rudolf Likar, Leiter des anästhesiologischen Abteilung am Landesklinikum Klagenfurt und Generalsekretär der ÖSG gibt dazu folgenden Befund ab: „In letzter Zeit trauten sich viele Schmerzpatienten aus Angst vor Covid-19 nicht in die Klinik und zu den niedergelassenen Ärzten. In diesem Fall schnell gekaufte rezeptfreie Medikamente, waren der falsche Weg. Wir haben in den vergangenen Wochen zwar die zu isolierenden Infektionskrankheiten behandelt, konnten aber nicht das Vertrauen schaffen, dass man auch für eine richtige Schmerzbehandlung in die Klinik kommen kann. Der Angstfaktor hat überwogen. Wir müssen diesen Angstfaktor dringend herausnehmen!“ Stromer kann das nur bestätigen: „Es hat geheißen, man soll daheim bleiben, wenn man kein gravierendes Problem hat und viele Patienten glaubten: ,Okay, ich habe nur Schmerzen, das ist nichts Gravierendes. Aber gerade der Beginn der Ausgangsbeschränkungen bzw. der Isolation hat dazu geführt, dass viele ihre Schmerzen stärker empfunden haben. Dann geht man halt in die Apotheke und holt sich ein Präparat, das man ohne Rezept bekommt. Das kann aber auch gravierende Nebenwirkungen haben, wenn etwa entsprechende Organschwächen vorliegen.“

Der Villacher Rheumatologe Michael Ausserwinkler, Vorstandsmitglied der ÖSG, sagt in aller Deutlichkeit: „Wir sind von evidenzbasierter Medizin in den letzten Wochen hin zu einer angstbasierten Medizin abgewichen, und da sollten wir die Patienten wieder herausholen. Auch rezeptfreie Medikamente sind unter diesem Aspekt zu sehen, weil viele meinen, diese seien weniger gefährlich als ,echte’ Medikamente – diesen Irrweg müssen wir wieder beenden.“

Welche Gruppe der Schmerzpatienten an der Fokussierung des gesamten Gesundheitsapparates auf Covid-19 zuletzt wohl am meisten gelitten hat? „Ältere Menschen und Patienten mit sprachlichen Problemen, bei denen die Botschaften vielleicht härter ankamen als beim Rest, und die sich gar nicht mehr vor die Tür trauten“, sagt der Rheumatologe Ausserwinkler.
Noch wisse man zu wenig über die Spirale von Angst und Schmerz, wie sich beides gegenseitig verstärkt. „Aber Angst und Isolation beeinflussen das Schmerzempfinden, und die Pflegeheime waren zuletzt isoliert“, gibt Likar zu bedenken. Daraus sollte man für die Zukunft lernen, dass generelle, ausnahmslose Besuchsverbote der falsche Weg sind. „In der Schnelllebigkeit der Corona-Beschlüsse dachte keiner daran, wo man - unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen - Ausnahmen machen kann. Wir werden aber erst im Herbst beurteilen können, ob die Angst und die Isolation unsere Therapien verschlechtert haben und wo Anpassungen von Therapiestrategien nötig sind“, sagt der Facharzt.

Mittlerweile gibt es jedenfalls bessere Nachrichten für Schmerzpatienten: Die einzelnen Ambulanzen fahren ihren Betrieb langsam wieder hoch, vergeben Termine, verlängern die Ambulanzzeiten, „ein Normalbetrieb ist wieder in Sicht“, wie es Ausserwinkler formuliert.
Allerdings würden derzeit auch viele auf ihre dringend benötigte Reha warten, die sie regelmäßig brauchen, um beweglich zu bleiben - hier könnte das Warten noch länger dauern. Die Renaissance des Topfenumschlags, wie sie Ausserwinkler seit bald zwei Monaten beobachtet, ist dabei wohl nur ein schwacher Trost.

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