Dieses Interview ist per E-Mail entstanden. „Marlies Hübner telefoniert nicht“, teilt ihr Verlag mit. Es ist ein erster, kurzer Eindruck davon, welche Regeln das Leben der 31-Jährigen bestimmen. Regeln, damit sie mit einer Umwelt zurande kommt, die sie mit ihren Reizen überfordert und mit Mitmenschen, deren Sprache sie nur zum Teil spricht.

Frau Hübner, warum telefonieren Sie nicht?
MARLIES HÜBNER: Telefonieren ist anstrengend und unangenehm. Autisten kommunizieren rein auf der Informationsebene, beim Telefonieren wird aber viel Subtext transportiert – so kommt es schnell zu Missverständnissen. Es ist schwer, herauszuhören, wann der andere fertig ist mit Sprechen und ob alles gesagt ist.

Kommunikation ist das Grundproblem für Autisten. Wann fällt das besonders auf?
HÜBNER: In jeder Kommunikationssituation. Stimmfarbe, Mimik, Gestik, sprachliche Spielereien – all das ist für Autisten kaum verständlich. Es ist wie eine Fremdsprache, die man sich nicht merken kann. Autisten brauchen klare Formulierungen, keine schwammigen Anweisungen.

Verstörungstheorien von Marlies Hübner
Verstörungstheorien von Marlies Hübner © kk

Die Diagnose Autismus wurde bei Ihnen erst mit 27 Jahren gestellt – wie hat sich Ihre Selbstwahrnehmung dadurch verändert?
HÜBNER: Zu wissen, dass man nicht anders ist, weil man sich zu wenig bemüht, sondern weil die neurologischen Gegebenheiten von der Masse abweichen, ist sehr wichtig. Mit der Diagnose bekam ich die Möglichkeit, mein Leben meinen Fähigkeiten und Einschränkungen entsprechend zu gestalten. Und es hilft mir auch, mich selbst anzunehmen, ohne den Maßstab der vermeintlichen Normalität anzulegen.

Man sagt, Autisten nehmen die Welt um sich herum ungefiltert wahr, alles prasselt auf sie ein – können Sie einen Einblick geben, wie sich der Alltag für Sie anfühlt?
HÜBNER: Ich glaube nicht, dass ich das kann. Ist es für Nichtautisten möglich, sich auszumalen, dass das Gehirn plötzlich keine Reize mehr filtert und sie alles wahrnehmen, ohne etwas ausblenden zu können? Dass Sinnesreize in ihrer Intensität Schmerzen verursachen können? Und wie anstrengend das schon nach kurzer Zeit sein kann? Ich kann es mir nicht vorstellen. Was Nichtautisten aber können, ist, zu akzeptieren, dass es Autisten so geht.

In Ihrem Blog verwenden Sie das Wort „Overload“: Was ist das?
HÜBNER: Der Overload ist der Zustand, der nach einer Reizüberflutung oder anderen überfordernden Situationen entstehen kann. Für Eltern autistischer Kinder oder Außenstehende kann das erschreckend sein. Es ist, als würde sich die Festplatte aufhängen, nur eben im eigenen Kopf. Die Konzentration nimmt stark ab, ebenso wie die Artikulationsfähigkeit und das motorische Geschick. Das ist ein enorm anstrengender, unangenehmer Zustand.

Wie pflegen Sie Freundschaften? Bedeutet Kontakt zu anderen vor allem Stress oder auch Genuss?
HÜBNER: Freundschaften sind für mich noch immer schwer zu verstehen. Ich teile meinen Freunden sehr klar mit, wenn ich ihr Verhalten nicht verstehe, wenn ich Wünsche habe oder ihren Beistand brauche. Und ich bitte sie, es ebenso zu tun. Habe ich Stress, vergesse ich aber schnell, aktiv Kontakte zu pflegen. Ich scheue dann die Anstrengung, die persönliche Treffen bedeuten.

In Ihrem Blog plädieren Sie für Online-Dating und soziale Medien als ideale Kommunikationsform für Autisten – warum?
HÜBNER: Online haben Autisten die Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern – dort liegt bei vielen die kommunikative Stärke. Man kann sich seine Antworten in Ruhe überlegen. Viele Autisten haben auch schlechte Erfahrungen mit anderen gemacht, sie brauchen daher länger, um Vertrauen zu fassen.

Sie kritisieren, dass Autisten ein defizitäres Bild ihrer selbst vermittelt bekommen – fühlen Sie sich „behindert“?
HÜBNER: An sich fühle ich mich nicht behindert. Meine Behinderung entsteht durch die Konfrontation mit der Außenwelt, an die ich mit meinem autistischen Gehirn nicht genug angepasst bin. Es ist die Summe der Dinge: die Unfähigkeit, Reize zu filtern. Die Notwendigkeit von Struktur. Die sozialen Probleme. All das macht, dass ich mich am Ende doch eingeschränkt und behindert fühle.