Ich bin in einer Stadt aufgewachsen, die es offiziell gar nicht gab. Obninsk, mein Geburtsort, war zu Sowjetzeiten eine geschlossene Stadt, die auf keiner Weltkarte eingetragen war. Obwohl dort 100.000 Menschen lebten. Der Ort entstand in den Fünfzigerjahren rund um das erste sowjetische Atomkraftwerk, man hat dort 23 wissenschaftliche Institute hingebaut. Meine Eltern waren Wissenschaftler.

Meine Mutter arbeitete als Chemikerin, eine ihrer Erfindungen hat den Liquidkristallfernseher möglich gemacht. Das Patent haben die Japaner in den Achtzigerjahren gekauft. Mein Vater war Quantenphysiker, sein Fachgebiet war die Atomforschung. Das war natürlich alles streng geheim. Aber das habe ich als Kind nicht wahrgenommen. Mit den Kacheln für den Hitzeschild der Sowjet-Raumfähre Buran habe ich wie mit Bausteinen gespielt.Als Tschernobyl in die Luft flog, gab es auf unserer Datscha eine Krisensitzung meines Vaters und seiner Institutsmitarbeiter. Daran kann ich mich gut erinnern. Ich war damals sehr jung, aber der Schock ist mir noch gegenwärtig. Vor allem, weil ich Angst hatte, dass mein Vater dort hinmuss. Er hatte mir vorher erklärt, wie gefährlich die Strahlung ist, dass man sie nicht spürt und davon trotzdem sehr krank werden und sterben kann. Gott sei Dank ist er dann nicht hingefahren.

Die Gedanken waren frei

Trotz der Gleichschaltung in der Sowjetunion habe ich in großer Freiheit gelebt. Meine Eltern waren sehr progressiv, wir konnten in der Familie über alles sprechen. Die Gedanken waren frei. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich jemals bestraft worden wäre. Meine Eltern haben viel gearbeitet, ich war als Einzelkind viel allein und lebte früh ohne Beschränkungen.
Nach außen gab es natürlich Geheimnisse. Ich wusste, es gibt Dinge, die ich über meine Eltern nicht erzählen darf. Zum Beispiel hat mein Vater, wie viele Russen zu Zeiten von Gorbatschows verschärften Alkoholgesetzen, auf dem Küchentisch heimlich Schnaps gebrannt. Er sagte mir, das müsse ein Geheimnis bleiben, weil er sonst ins Gefängnis kommt.
Als dann die Sowjetunion zusammengebrochen ist, wurden in Obninsk alle wissenschaftlichen Institute geschlossen und die Leute entlassen. Vielen der dort tätigen Wissenschaftler hat das ihr Leben ruiniert. Sie haben sich in der schönen neuen kapitalistischen Welt nicht mehr zurechtgefunden. Mein Vater war da keine Ausnahme. Er hat versucht, orthopädische Hilfsmittel für behinderte Menschen zu bauen, und eine kleine Brotfabrik organisiert. In die Wissenschaft hat er nicht zurückgefunden. Meiner Mutter ging es ähnlich.

Filme machen? Ein unernster Beruf

Aber ich habe das nicht als besonders tragisch empfunden. Meine Eltern wollten natürlich, dass ich Wissenschaftlerin werde. Aber dafür hatte ich nie Talent. Da die Eltern, als ich ein Kind war, so viel gearbeitet haben, bin ich von klein auf viel im Kino und vor dem Fernseher gesessen. Irgendwann begann ich mich zu fragen, wer sich all die Geschichten ausdenkt, die ich da sehe. Ich war, glaube ich, 12 oder 13, als ich beschloss, Filme zu machen. Als ich auf die Filmhochschule in Moskau ging, haben mich meine Eltern sofort unterstützt, obwohl sie skeptisch waren. Filme machen war für sie ein unernster Beruf.

Österreich: Neuland in vielerlei Hinsicht

Auf der Filmhochschule habe ich einen österreichischen Studenten kennengelernt, Dominik Spritzendorfer. Ich habe mich natürlich sofort in ihn verliebt und bin mit ihm nach Wien gegangen. Das ist 21 Jahre her.
Der Kulturschock war gewaltig. Da meine Eltern Geheimnisträger gewesen waren, durften sie nicht reisen, auch noch Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Ich war vor Österreich noch nie im Ausland gewesen. Hier habe ich erlebt, was ich in Russland nur aus Büchern kannte: eine soziale, demokratische Gesellschaft, die nicht von einer korrupten Partei beherrscht wird, in der jeder offen Fragen stellen und Kritik äußern kann, ohne dafür bestraft zu werden.

In Russland richtet man sich das Leben bis heute möglichst unpolitisch ein, weil jeder glaubt, dass er ohnehin nichts bewirken kann und schlimmstenfalls unter Hausarrest oder im Gefängnis landet, wie die Regisseure Oleg Senzow oder Kirill Serebrennikow.Ich bin ein Österreich-Fan. Ich bleibe hier. Meine beiden Söhne sind 18 und neun Jahre alt, ich möchte, dass sie frei und ohne Zwang ihren Lebensweg finden können, dass sie ihren Talenten und Interessen nachgehen und das Leben wählen können, das sie wollen. Das ist mir auch vor dem Hintergrund dessen, was meine Eltern erlebt haben, wichtig. Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben, aber meine Mutter hat meinen Film „Kaviar“, der demnächst ins Kino kommt, beim Filmfestival in Moskau gesehen und irrsinnig gelacht.

Darin geht es um österreichsche Betrüger und einen russischen Oligarchen, der sich mitten auf der Schwedenbrücke eine Villa bauen lassen will.

Das klingt übertrieben, aber ich kenne eine russische Landschaftsarchitektin, die einem reichen Mann unlängst einen Vulkan in den Garten gebaut hat. Der bricht auf Knopfdruck aus, wenn der Mann aus der Sauna kommt. „Kaviar“ spielt mit österreichischen und russischen Klischees und mit satirischer Überzeichnung. Dass mein Film nun ausgerechnet zu Zeiten von „Ibizagate“ ins Kino kommt, amüsiert mich.Auch wenn die Demokratie hier, im Gegensatz zu meiner Heimat, funktioniert. Trotz allem.