Fünf Prozent der Kinder dürften in unterschiedlicher Weise an einer Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Doch es gibt Anzeichen von mittlerweile zu häufigen Diagnosen und medikamentöser Übertherapie. So hat sich der Verbrauch an dem klassischen ADHS-Mittel Methylphenidat vervielfacht, sagte am Dienstag bei der Apotheker-Fortbildungstagung der steirische Pädiater Ludwig Rauter.

"In Deutschland ist der Verbrauch von Methylphenidat innerhalb von 20 Jahren (1993 bis 2014; Anm.) auf das 50-fache gestiegen, in Österreich zwischen 2002 und 2004 um das Zehnfache. Das ist eigentlich eine Katastrophe", sagte der Experte (Krankenhaus Leoben) bei der Tagung in Schladming.

Das unter dem Kunstnamen "Ritalin" bekannt gewordene Medikament, das an sich einen aufputschenden Effekt besitzt, hat bei ADHS hingegen eine paradox beruhigende Wirkung, kann aber zur Abhängigkeit führen. In Deutschland wurden 1993 von den Apotheken 34 Kilogramm Wirkstoff bestellt, 2014 waren es mehr als 1.700 Kilogramm. In Österreich erhöhte sich der Verbrauch von vier Kilogramm (2002) auf 49,7 Kilogramm (2014).

Der genetische Anteil der Erkrankung dürfte bei 75 Prozent liegen. Wahrscheinlich steckt dahinter eine Schwäche in der Informationsverarbeitung und in der Selektion von Prioritäten. Das Gehirn hat Schwierigkeiten, Informationen sinnvoll zu sortieren. Buben sind drei- bis fünfmal häufiger betroffen. Bei ihnen ist zumeist die Hyperaktivität stärker. Mädchen mit der Störung fallen eher durch "Verträumtheit" auf. "Bei ein bis drei Prozent der Kinder ist die Symptomatik so ausgeprägt, dass eine psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung notwendig ist", sagte Rauter.

Freilich, die enorm gestiegenen Verbrauchsmengen an Methyphenidat könnten auch auf einen Übergebrauch hinweisen. Es gab immer wieder Warnungen, dass bei "auffälligen" Kinder die Diagnose ADHS zu leicht gestellt und zu schnell Medikamente verschrieben werden könnten. Mittlerweile gibt es bereits eine Reihe von Arzneimitteln, die für die ADHS-Therapie zugelassen sind. Neben den anregenden Substanzen (Methylphenidat, Amphetamin, Lisdexamphetamin) sind das zum Beispiel auch Antidepressiva (Atomoxetin, Bupropion).

"Die Therapie sollte immer multimodal sein", sagte Rauter. Elternberatung und Training, kinderzentrierte Interventionen und Interventionen, was den Schulalltag betrifft, Neurofeedback, Diäten, Fischöl-Präparate und schließlich Medikamente sind hier Bestandteile der Behandlung.

Am wichtigsten ist wohl der Umgang mit dem Problem durch Familie und Schule. ADHS zeigt sich nämlich auch in vielen positiven Aspekten: Ehrlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Offenheit, Spontaneität, Flexibilität, Hilfsbereitschaft und Ideenreichtum. Der Leibarzt von Napoleon I. bezeichnete den ADHS-Betroffenen als ein "moralisch krankes Kind, Sklave seiner Leidenschaft, Schrecken der Schule, Qual der Familie und Plage seiner Umgebung".

Diese Einstellung und Werturteil sollten vorbei sein. Bei echtem Bedarf und nach streng nach den internationalen Kriterien gestellten Diagnose könne im echten Bedarfsfall natürlich auch die medikamentöse Therapie angezeigt sein. "Ritalin kann Leben retten", sagte Rauter.

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