Sogar jetzt, da er nicht mehr ist, kann man nicht über ihn schreiben, ohne ihn vor dem inneren Auge wiedererstehen zu sehen. Seine ausdrucksvolle, beschwörende Art zu sprechen, die lebhafte Gestik und dann – wieder – die langen Pausen der Stille, des in sich gekehrten Schweigens, das er sich bei den gemeinsamen Spaziergängen oft genug selbst verordnete, um dann – plötzlich den Schalk in den Augen – seine in lichten Höhen entschwebten Gedanken wieder zu erden und auf das für ihn Wesentliche zurückzuführen: den Menschen, seine Freiheit und die wunderbare Komplexität der Welt.

Diese Trias war es, um die das Denken und Schreiben von Dževad Karahasan kreiste. Und sie war es, aus der sich sein Engagement für den Dialog und die Begegnung speiste. Dass er im belagerten Sarajevo selbst in den Abgrund geblickt und dem Hass getrotzt hatte, verlieh seinem unermüdlichen Werben für Menschlichkeit und die heilende Kraft einer Umarmung die nötige Glaubwürdigkeit. Noch zu Lebzeiten nominiert, wurde der am 19. Mai im 70. Lebensjahr in Graz verstorbene bosnische Schriftsteller für sein leidenschaftliches Eintreten für Toleranz und Humanität nun daher posthum mit dem vom Styria-Medienkonzern gestifteten Fritz-Csoklich-Demokratiepreis ausgezeichnet.

Eine gute, eine zeichenhafte Entscheidung gerade in Krisenzeiten wie diesen, die viele zum schnellen Urteil verleiten. Der binären Logik, welche die Welt heute nur zu oft in Freund und Feind, in Gut und Böse scheidet, verweigerte er sich ebenso wie der Vorstellung von einem Kampf der Kulturen. Denn er war überzeugt davon, dass der Mensch keinen Feind braucht, um seine eigene Identität zu artikulieren. "Ich bin ich, weil du du bist, und du bist du, weil ich ich bin", war für ihn, den gläubigen Muslim und Mystiker, die Formel, der Ausgangspunkt für das "wahre Gespräch", das er als Austausch und Gelegenheit zum Kennenlernen verstand, heißt es in der Begründung der Jury. Und: "Der andere blieb für ihn immer unabdingbare Voraussetzung für die eigene Freiheit. Diese offene Haltung bestimmte auch sein Ringen um eine angemessene Wahrnehmung und Beurteilung der erlebten Vergangenheit, die er als "Fangeisen" bezeichnete, "das uns die Zeit aufgestellt hat".

Tatsächlich blieb die Zerstörung seiner Heimatstadt Sarajevo, in der Völker und Religionen bis zum Ausbruch der Jugoslawien-Kriege Anfang der Neunzigerjahre friedlich zusammengelebt hatten, für Karahasan zeitlebens eine offene Wunde. Doch anstatt sich dem Schmerz über das Verlorene zu ergeben, wurde er, der Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum, zum Chronisten seiner untergegangenen Stadt und machte das vergessene, verwundete Bosnien zum Ort der europäischen Literatur. Dazu die Jury: "Mit seinem Werk hat er das Fenster zu einem tiefgehenden Verständnis der dort lebenden Menschen weit aufgestoßen."

Damit reiht sich Dževad Karahasan leuchtend in die Reihe der bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger ein. Überreicht wird die Auszeichnung, die "vor dem Hintergrund der Polarisierung, der lose gewordenen gesellschaftlichen Klammern und des Zweifels am Projekt Europa" der Stärkung der Demokratie und des Zusammenhalts dienen soll, in einer feierlichen Zeremonie im Herbst.