Frau Degot, Sie mussten im Corona-Jahr 2020 den steirischen herbst ganz neu aufsetzen. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Ekaterina Degot: Das komplette Festival für den Herbst im allerletzten Moment neu zu denken und umzuplanen war eine Herausforderung, aber der steirische herbst ist ja bekannt dafür, sich schon oft neu erfunden zu haben. Wir freuen uns, mit Paranoia TV eine ganz besondere Festivalausgabe gestaltet zu haben. Paranoia TV war dabei eine fiktive Institution, ein kuratorisch-künstlerisches Projekt und ein neues Medium für die Verbreitung von Kunst. Es hat online wie auch vor Ort in Graz und der Steiermark viele wundervolle künstlerische Arbeiten sowie Vorträge von Philosophen und Journalisten zusammengebracht. Es war alles eine spielerische Versuchsanordnung, und die Künstler haben enthusiastisch mitgespielt. Das Festival war sehr erfolgreich beim internationalen Publikum, hat aber auch in Graz auf sich aufmerksam gemacht. Am wichtigsten ist aber, dass wir eine Geschichte über diesen Moment erzählt haben. Die Atmosphäre des Zusammenkommens hat vielleicht gefehlt, aber auch das gehört zur Geschichte unserer Zeit.

Hatte es der Kunst vielleicht sogar gutgetan, ihren Aufholbedarf im Digitalen so rasch wettmachen zu müssen?

Degot: Ja, aber nicht nur der Wechsel zum Digitalen. Bei Paranoia TV war es nur einer der Wege, über die wir die Zuschauer erreichen wollten. Es gab auch Performances, es gab Kunstwerke, die das Publikum direkt nach Hause geliefert oder über ihre Tageszeitung bekommen hat. Zeitgenössische Kunst hat eine lange Tradition des "Piratenvertriebs", wo die Kunst dort in Erscheinung tritt, wo es ihr beliebt. Sie braucht nicht unbedingt den "white cube" oder ein Museum. Sie muss nicht einmal ein Objekt sein, sondern kann Text, Geste oder Klang sein. Wir konzentrieren uns darauf, eine Geschichte zu erzählen, und das kann man auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Der digitale Raum ist eine der Plattformen, auf der Kunst in Erscheinung treten kann, und eine sehr mächtige. Man muss sie auskundschaften.

Wird die Bedeutung der digitalen Aspekte bleiben? Wird es notwendig sein, künftig ein Festival ganz anders aufzusetzen?

Degot: Das ist vielleicht die wichtigste Frage. Generell glaube ich, dass die Menschheit am Anfang von sehr großen Veränderungen steht. Es geht nicht zurück zu der Normalität, wie wir sie kennen. In einigen Aspekten vielleicht schon, hoffentlich, aber generell hat die Coronakrise die Tendenzen gesteigert, die schon existierten. Unser Leben ist auf tragische Weise normal, die Leute sterben und die älteren und kranken Leute sterben früher. Schon vor der Pandemie waren wir sozial viel distanzierter als noch vor ein paar Jahrhunderten. Wir klebten an unseren Bildschirmen, die technologische Verfremdung war schon da. In diesem Sinn ist diese Krise nicht surreal, wie es etwa eine Pandemie unter unseren Smartphones oder ein globaler Internet-Kollaps gewesen wäre.

Zahlen wir jetzt den Preis dafür, müssen wir zurückgehen?

Degot: Ich denke nicht. Ich glaube, dass die digitale Dimension erforscht werden muss, sowohl politisch als auch künstlerisch, und zwar zusammen mit der Dimension des realen Lebens. Ja, das Digitale beraubt uns des Realen, aber die Spannung zwischen Präsenz und Abwesenheit gibt es in der Kunst schon seit langem - denken wir nur etwa an Theater und Kino. Früher war es für Besucher seltsam, dass sie auf der Leinwand Menschen sehen, die in diesem Augenblick gar nicht da sind. Heute ist für manche Videokünstler vermutlich Live-Theater seltsamer. Die bildenden Künste und das Theater haben sich lange gegen das Digitale gesträubt wegen der Zugänglichkeit - sie schützten den einzigartigen Charakter von Theatervorstellungen und Ausstellungen, für die man anreisen und (oft viel) zahlen musste. Aber genau deshalb ist das Digitale demokratisch. Künstler werden einen Weg finden, diese Dimension in ihre Arbeit zu integrieren. Man muss allerdings aufpassen, dass davon dann nicht nur Technologie-Riesen profitieren.

Derzeit werden aus Opernhäusern und Theatern Vorstellungen gestreamt, die im leeren Haus stattfinden. Die Atmosphäre dabei ist furchtbar. Wird die darstellende Kunst, wie wir sie vielfach unter räumlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts konsumieren, unter Druck geraten und in wenigen Jahren vielleicht ganz anders aussehen?

Degot: Das wäre eigentlich nicht schlecht. (lacht) Ich verstehe aber, dass es für Performer extrem schwierig ist, ohne Publikum zu arbeiten. Man muss eben kreativ damit umgehen - so wie es die Modeindustrie heuer mit ihren Fashion Shows gemacht hat. Es gibt viele Möglichkeiten, das klassische bourgeoise Theater oder Ausstellungen infrage zu stellen - zum Beispiel, sie aus Institutionen raus zu holen, um das Publikum in ihrem Alltag mit Kunst zu konfrontieren. Jetzt ist der richtige Moment, um alles über Kunst infrage zu stellen, von dem wir annahmen, es sei für immer. Die Künste, wie wir sie kennen, sind hauptsächlich ein Produkt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts - es wäre interessant, nun andere Traditionen und Kulturen zu erkunden.

Welche anderen Herausforderungen gibt es für die Kunst?

Degot: Die Krise ist nicht sinnlos. Sie hat uns mit unserer Sterblichkeit konfrontiert - etwas, was in der Kultur gerne verdrängt wird. Wie kann Kunst wieder große Fragen stellen, ohne didaktisch zu sein? Ich würde mich freuen, wenn Künstler wieder größer denken und weniger über sich selbst sprechen würden. Aber die vielleicht größte Herausforderung ist: Wir leben nicht nur in einer Pandemie-Zeit, sondern in einer Zeit einer globalen kulturellen Revolution, wie wir sie in diesem Maßstab noch nie gesehen haben: Blacklivesmatter, #metoo, die Trans-Revolution, Inklusivität... Da muss man alles in unserem westlichen Leben infrage stellen, auch die Kunst, die ja ein Teil des Systems ist, obwohl sie es gleichzeitig natürlich schon immer kritisiert hat. Gerade für diese Kritik muss man neue Formen, neue Sprachen und neue Wege zum Publikum finden, denn die alten Waffen scheinen stumpf geworden zu sein.

Die Bewegungen Blacklivesmatter und #metoo führen heuer internationale Kunst-Rankings an. Im Ranking von "Art Review" sind sie die Topgereihte, die in Österreich tätig ist...

Degot: Diese Rankings darf man nicht allzu ernst nehmen, aber sie zeigen, dass diese Bewegungen heute viel wichtiger als irgendwelche Kuratoren oder Philosophen sind. Nun geht es darum, die Strukturen, die mit systemischer Unterdrückung, mit Kolonialgeschichte zu tun haben, zu erkennen - auf allen Ebenen, auch etwa zwischen Mittel- und Osteuropa. Da sind Institutionen besonders gefordert.

Geht es angesichts der Coronakrise nicht eher um einen Überlebenskampf von Institutionen und Künstlern als um politische Einflussnahme?

Degot: Es stimmt, es gibt viele Institutionen, die sehr prekär arbeiten. Die Leute sind verunsichert. Was jetzt passiert, ist ein großes Erdbeben. Die künstlerische Reaktion werden wir erst in einigen Jahren sehen. Wir müssen uns Zeit nehmen, zu verstehen, was vor sich geht. Die ersten Reaktionen von Philosophen waren wahrscheinlich zu früh - und für Künstler gilt das wahrscheinlich auch.

Die Politik hat sich in der Coronakrise in nie da gewesenem Ausmaß in unser Leben eingemischt. Haben Sie Angst, sie könnte auf den Geschmack gekommen sein?

Degot: Ich bin in einem diktatorischen Kontext aufgewachsen. Man vertraute dem Staat nicht, nur seiner Familie und seinen Freunden. Im Westen sehe ich im Gegensatz dazu schon eine große Geborgenheit. Ich habe nicht das Gefühl, dass in Österreich verhältnismäßig viele Leute unglücklich darüber sind, dass der Staat ihnen etwas vorschreibt. In Frankreich oder Russland sind die Menschen viel unglücklicher mit den Maßnahmen.

Vielleicht ist das hierzulande auf das lange Nachwirken der Habsburger-Monarchie zurückzuführen?

Degot: Ja, das vielleicht auch. (lacht) Der ging es ja auch ein wenig wie der Sowjetunion: Bei beiden hatte man nie damit gerechnet, dass es jemals mit ihnen zu Ende gehen könnte.