Demonstrieren in Zeiten von Corona ist eine seltsame Angelegenheit. Handschuhe machen aus wilden Klatschern patscherte Pascher und Jubelschreie oder Buh-Rufe schaffen es bei verpflichtendem Mund-Nasen-Schutz nur in abgedämpfter Form an die Öffentlichkeit. Pfiffe fehlen gänzlich. Und Musik ist auch nicht genehmigt. Zumindest war sie das nicht bei der 1.- Mai-Demo von Vertreterinnen und Vertretern der Kulturbranche am frühen Abend am Wiener Heldenplatz. „Für mich ist das keine Eintagsfliege“ sagte der Initiator, Musiker und Veranstalter León de Castillo ins Mikrofon. Man wolle, erklärte er, so lange zusammenkommen, wie es notwendig sei. „Bis uns endlich jemand zuhört.“

Wachsender Unmut


Der Unmut in der Szene ist groß. Während viele Branchen mit der Erklärung, sie seien systemrelevant, seit gestern reglementiert wieder hochfahren durften, es für andere einen exakten Fahrplan zur Orientierung gibt, dominiert im kulturellen Bereich weiterhin der Lockdown. Und abgesehen von Museen, Galerien und Bibliotheken (siehe rechts) oder 1:1-Probesituationen sind die Infos über die Rückkehr einer Branche, die von Leidenschaft und Selbstausbeutung lebt, an die Öffentlichkeit dürr.


Es ist paradox. Denn gerade jetzt, im Krisenmodus, sind die Kunst- und Kulturschaffenden mit ihren Arbeiten für uns da. Sie nähren den Intellekt, stillen die Sehnsucht, sie lassen uns über die Aktualität nachdenken und sorgen für Entertainment in ereignislosen Wochen: Wir streamen Filme, unterhalten uns bei Wohnzimmerkonzerten, tanzen beim Digital-Clubbing, lenken uns mit Serien-Binge-Watching ab, besuchen virtuell Museen oder Theaterpremieren und lesen erste Corona-Texte oder gar -Bücher. Als systemrelevant werden ihre Erzeuger nicht wahrgenommen, als wichtige Wirtschaftsfaktoren auch nicht.

"Eine Gesellschaft ohne Kultur ist eine tote Gesellschaft"


"Ich mache mir wirklich Sorgen um unsere Gesellschaft“, betonte die Journalistin und Autorin Susanne Scholl bei ihrer Brandrede eingangs vor rund 300 Menschen in Wien. Und weiter: „Eine Gesellschaft ohne Kultur ist eine tote Gesellschaft, eine kaputte Gesellschaft.“ Applaus.

Susanne Scholl
Susanne Scholl © Akos Burg


Die Plakate und Transparente unterstreichen das Dilemma der Branche: „Auch Kunst und Kultur können Leben retten“ und „Art Feeds Our Freedom. But Who Feeds the Artists?“ Oder: „Vielfalt ist Demokratie, auch Kleinkunst muss leben“ ist darauf zu lesen. Theatermacher Dieter Boyer sagt: „Kulturschaffen ist auch Arbeit, die Menschen für die Gesellschaft verrichten.“ Vehementer appellierte er: Die Künstlerinnen und Künstler seien dafür verantwortlich, dass Österreich als „Kulturnation“ wahrgenommen werde. Aber: „Auch die müssen essen und Miete zahlen.“ Viele fallen aktuell trotz Härtefallfonds und Künstler-Sozialversicherungsfonds durch das Netz.


Haben Sie uns vergessen?“, fragte Schauspielerin Alina Schaller, die einen Protestbrief der Filmbranche vorlas, in Richtung Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek. „Die Kunst- und Kulturbranche lässt sich nicht wie ein Lichtschalter an- und ausschalten. Es braucht nicht nur viele Wochen Vorlaufzeit, um die funktionierende Logistik eines Filmdrehs oder einer Theaterinszenierung gewährleisten zu können, es braucht vor allem Personal.“

Demonstrieren in Zeiten von Corona
Demonstrieren in Zeiten von Corona © Akos Burg


Obwohl der digitale Protest in Form von Online-Petitionen zuletzt zunahm – es gibt kaum eine Aktivität, die so vom Live-Ereignis lebt wie eine Demo. Sit-ins, Märsche und Besetzungsaktionen von Bäumen, Häusern oder dem öffentlichen Raum – all das schreit förmlich danach, im Analogen zu passieren. Und einige Profi-Aktivisten haben an diesem Frühsommertag auch sichtlich Freude daran, nach Wochen mit Ausgangsbeschränkungen wieder für etwas auf die Straße zu gehen.


Auf dem Heldenplatz wurde schon vielfach Geschichte geschrieben, hier zementierte Adolf Hitler das dunkelste Kapitel des Landes im vorigen Jahrhundert ein. Hier leuchtete auch einst die größte Demo des Landes. 1993 nahmen bis zu 300.000 Menschen am Lichtermeer von SOS Mitmensch teil. Zuletzt mahnten die jungen Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ hier ihre Ziele ein. Dieses Mal war „Für Kunst & Kultur“ dran. Fortsetzung? Folgt.