Mozart hat die Oper unter großem Zeitdruck in nur 50 Tagen geschrieben. Merkt man ihr das an?
MARCO ŠTORMAN: Ich glaube, Mozart war nie entspannt. Aber es ist auffällig, dass alle Musikfreunde, denen ich erzählte, ich würde den „Titus“ inszenieren, sagten: Mensch, diese „Clemenza“! Das ist doch das langweilige Stück von Mozart, es hat keine Melodie, die im Ohr bleibt, und die Story ist so zäh. Da war ich erst recht interessiert. Mozart soll eine langweilige Oper geschrieben haben? Oder wurde einfach nicht richtig unter die Oberfläche geschaut?


Und, was haben Sie unter der Oberfläche gefunden?
Vor allem die Frage: Ist dieser König wirklich so gnädig? Der historische Titus war, bevor er zum Kaiser gekrönt wurde, ein blutrünstiger Kriegstreiber. Da frage ich mich, was für eine politische Marketingstrategie dahintersteckt, wenn er als Kaiser so plötzlich und radikal umschaltet. Inwiefern können Milde und Großzügigkeit auch Druckmittel und Terror sein.

Regisseur Marco Štorman
Regisseur Marco Štorman © privat


Sie konnten Ihren irritierten Musikfreunden gleich kontern?
Ja. Die Vorgeschichte an sich, dass Mozart für den König eine Krönungs- und Preisungsoper schreiben soll, birgt bereits eine Ambivalenz. Er liefert das natürlich nicht ohne Kommentar. Das war die erste These, der wir in der Vorbereitung auf den Grund gegangen sind: Die Musik ist dabei nicht nur Kommentar, sie ist visionär. Allein, wie er das Ende des ersten Aktes, den Brand, komponiert. Da müsste es ja ordentlich zugehen, sich im Chaos veräußern. Aber Mozart macht genau das Gegenteil, er dünnt das richtig aus.


Wie in Zeitlupe ...
Kann man so sagen. Er geht in die Schockstarre jeder Figur rein. Dadurch wird nicht das Chaos wichtig, sondern das Anhalten von jedem Einzelnen. Fantastisch. Und das Finale des zweiten Aktes: Die ganze Pracht und Preisung dauern viel zu lang und sind im Verhältnis zu allem anderen so zu groß, dass das selbstverständlich ein zynischer Kommentar auf den Auftrag, die Krönung und auf die ganze Figur des Titus ist.


Wurde dieser Kommentar von Mozarts Zeitgenossen als solcher wahrgenommen?
Kaiserin Maria Luisa soll jedenfalls nach der Prager Premiere von einer „deutschen Schweinerei“ gesprochen haben. She was definitely not amused.


Was für ein Typ ist Ihr Titus? Er wird von Attilio Glaser gesungen, der im Vorjahr als Werther in Klagenfurt zu hören war.
Unser Titus ist ein Zerrissener, ein Narziss, der versucht seine Vergangenheit wegzudrücken und doch wieder von ihr eingeholt wird. Wir haben eine Titusfigur, die weniger vor Clemenza strotzt, aber diese wie ein Plakat vor sich herträgt. Dass Atillio Glaser selbst so jung ist, bringt uns einen jungen, charismatischen Politiker auf die Bühne, der sich zum Kaiser stilisiert. Einen Machthaber, der den ganzen Weg noch vor sich hat. Er wird nicht gleich übermorgen abdanken. Das Teuflische aus der Jugendlichkeit heraus zu entwickeln, macht es doppelt böse.


Gibt es für Sie heutige Entsprechungen für den Titus?
Es gibt den Typ Politiker Titus. Da bewegen wir uns zwischen Donald Trump, Erdogan und Putin, in dieser Mischung aus demokratisch gewählten und sehr autoritären Männern. Aber man muss nicht so weit weggehen: Auch in Deutschland und Österreich gibt es gesellschaftliche Tendenzen, die absolut angsteinflößend sind. Meine Generation ist scheinbar so in die Freiheit hineingeboren, dass wir eher fassungslos und gelähmt sind als wütend. Statt in die Offensive zu gehen, lassen wir uns immer mehr einlullen.


Bei Mozart gibt es so etwas wie eine Gegenbewegung.
Ja, Sesto und sein Team. Sie merken, dass die Fassade bröckelt, dass die Idee vom guten König und die Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Titus verhaftet Sesto, die Figur, die Veränderung sucht. Daraus entstehen natürlich aktuelle Fragen. Wie weit ist es um die freie Meinungsäußerung bestellt. Wie werden Journalisten in Demokratien behandelt, auch in Österreich und Deutschland. Man denke nur an das Aushebeln von Argumenten, indem sie zu Fake News und damit die Journalisten zu Lügnern stigmatisiert werden. Woran sollen die Bürger dann glauben?


Wie gehen Sie mit den vielen Rezitativen um?
Sie sind total aufregend, allerdings hätte ich vor einem Jahr vielleicht etwas anderes gesagt. Sie sind so filigran und genau, alles zwischen den Figuren wird in den Rezitativen verhandelt. Würde man sie weglassen, hätte man eine Nummernrevue aus Ergebnissen und wüsste nicht um deren Herleitung. Die Figuren würden quasi hohl im Raum hängen. Die Rezitative sind das Uhrwerk des Ganzen.


Wie ticken Sie im Verein mit Dirigent Nicholas Carter?
Ich erlebe uns als Dream-Team. Er denkt in der Dynamik der Musik so szenisch. Wir werfen uns Ideen hin- und her.


Wie schaut die Bühne aus?
Wir haben uns für ein Albtraum-Zerrbild, ein Titus-Labyrinth entschieden. Ein großes Raumgerüst, das sich permanent dreht. Es gibt auf der Bühne ein sechs Meter tiefes Loch, quasi die Vergangenheit von Titus. Über dieses Loch hat er sein Schloss gebaut, ein Spukschloss. Er versucht, damit die Vergangenheit zuzustopfen, aber sie bahnt sich ihren Weg. Vermutlich liegt die Poesie diesmal in einem überbordenden Grusel-Märchen.