Haben Sie sich schon eingelebt?
ROLAND KLUTTIG: Ja, das würde ich behaupten. Graz ist mir nicht unbekannt, weil ich hier „König Roger“ und „Ariane et Barbe-Bleu“ dirigiert habe und ich fühle mich hier um den Kaiser-Josef-Platz schon zuhause.

Für das Orchester gelten spezielle Regeln?
Ja, wir spielen mit Mindestabstand, wir haben bei der „Passagierin“ das Orchester geringfügig reduziert – im schweren Blech, das stark besetzt ist. Bei groß besetzten Werken sind Reduktionen ja gängige Praxis, bei „Salome“ oder „Wozzeck“ etwa. Wenn Sie das Stück nicht genau kennen, merken Sie das nicht.

Der Platz im  Orchestergraben ist ausreichend?
Wir müssen ein bisschen bei den Streicher reduzieren, aber wir leben in Zeiten, in denen man halt Zugeständnisse machen muss. Ich finde am Wichtigsten, dass die Orchester und Theater in Aktion treten. Da kann man das verschmerzen.

Wie haben Sie den Corona-Lockdown erlebt?
Er hat einen zum Nachdenken gebracht, weil man völlig aus dem Hamsterrad herausgeworfen ist. Eine kurze Zeit lang habe ich das durchaus genossen. Dann, als die Phase kam, wo wir wieder versucht haben zu spielen, wurde es sehr unerfreulich. Man hat versucht, Programme aufzustellen, die dann alle von den Behörden nicht genehmigt worden sind. Das war die Situation in Deutschland: Es gab eine große Unkenntnis bei den Behörden darüber, was bei einem Konzert passiert. Wir hatten raumunabhängige Obergrenzen, die völlig unsinnig waren.

Welche Auswirkungen könnte Corona auf den Betrieb haben?
Corona hat in vielen Bereichen den Finger auf die Wunde gelegt, denken wir an die fleischverarbeitende Industrie oder die abartig großen Luxuskreuzfahrtschiffe. Kultur ist ganz essenziell, aber man darf sich Fragen stellen. Muss zum Beispiel ein großes amerikanisches Orchester in Wien Mahlers Symphonie Nr. 2 aufführen? Ich sage nicht, dass so etwas generell nicht möglich sein soll, aber der Betrieb hat sich auf eine Weise verselbstständigt, die hinterfragt werden sollte. Eine De-Globalisierung, ja eine Regionalisierung wäre gut. Ich finde es uninteressant, wenn in San Francisco, München, Tokio immer die gleichen Sänger singen. Das muss nicht sein, dass wie verrückt um die Welt geflogen wird. Aber die Bedeutung von Liveaufführungen, habe ich durch Corona stärker erlebt als je zuvor.

Ihre Hoffnung wäre eine Regionalisierung?
Ja, ich hoffe, dass ein stromlinienförmiger Jet-Set-Klassikbetrieb wieder weniger wichtig wird, und das Interesse sich eher an Fragen wie „Wer singt gerade da in Graz und was machen die dort Besonderes?“ entfacht. Möglicherweise könnte es auch für Sänger wieder interessanter werden sich an ein Haus zu binden und nicht mit ein paar wenigen Rollen international präsent zu sein. Die Ensembles sind heutzutage noch oft zu klein.

Hat der internationale Betrieb der Opernwelt nicht zur Gleichförmigkeit geführt? Früher hörte man zum Beispiel einem Tenor an, ober aus Frankreich oder aus Deutschland kommt.
So ganz verschwunden sind diese Unterschiede ja noch nicht. Ein Orchester aus Schweden spielt anders als eines aus Tschechien oder eines aus Frankreich. Wir reden gerne von der Nivellierung, aber es ist erstaunlich, wie sehr die Sprache das Musizieren und das Komponieren bestimmt.

Und was ist das Charakteristische am Grazer Orchester?
Es ist erstaunlich, wie schnell die Grazer sich in fremde Musiksprachen einfinden können. Bei der Erstprobe klingt es vielleicht noch fremd, aber es kommt schnell der Moment, wo man merkt: „Jetzt passt der Anzug“! Es gibt hier in Österreich auch eine interessante Verquickung mit dem böhmischen Musizieren. Graz ist sicher auch anders als Wien, aber diese feinen Unterschiede muss ich noch kennenlernen.

Was fasziniert Sie an Weinbergs Oper „Die Passagierin“?
Es ist erstaunlich, dass er sich getraut hat, ein Stück über Auschwitz zu schreiben. Wir sind mit dem Adorno-Verdikt groß geworden, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden können. Es war zu Adornos Zeiten wichtig, diese Sprachlosigkeit im Angesicht des Holocaust zu beschreiben. Umso erstaunlicher ist, wie klug und differenziert Weinberg mit diesem Thema umgeht, wie er nicht in der Katastrophe ertrinkt, sondern sich Distanz bewahrt und sie dadurch vergegenwärtigt.