Ihr neuer Roman sollte in diesen Wochen hinaus in die Welt – aber „die Welt“ ist weitgehend geschlossen derzeit. Verzweifelt man da als Schöpferin des Geschriebenen?
BIRGIT BIRNBACHER: Das Gute war, die Auswirkung in ihrer Gesamtheit kam ja nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt. Zuerst wurde die Leipziger Buchmesse abgesagt, dann die Lit.Cologne, so ging das immer weiter, und dann bröselte langsam aber sicher die aufwändig organisierte Lesereise dahin. Gleichzeitig wurde aber auch immer klarer, dass das alles aus guten Gründen geschieht. Ja, sicher, einen Moment hat es schon gegeben, da war ich wirklich traurig um die ganze Arbeit rund um das Buch. Aber ich neige grundsätzlich nicht zum dauerhaften Verzweifeln. In der sozialen Arbeit ist man es gewohnt, in katastrophalen Situationen der zu sein, der überzeugend davon ausgeht, dass alles, wenn nicht gut, dann zumindest besser wird. Das hilft mir in der derzeitigen Situation. Und das Bewusstsein darüber, dass mein Buch nicht das Zentrum des Universums ist, sondern dass es jetzt darum geht, dass möglichst viele Menschen gesund bleiben. Man muss das Ganze schon auch im Verhältnis sehen.

Ist der Rückzug belastend für Sie oder ohnehin Teil des Lebens einer Schriftstellerin?
BIRNBACHER: Für mich ist die Isolation nicht schwierig. Während der letzten Jahre habe ich ein Buch geschrieben, bei jedem Wetter und in jedem Zustand, gesund und krank, Sommer wie Winter. Ich stehe nicht vom Schreibtisch auf, nur weil es draußen warm wird oder ein Vogel vorbeifliegt. Ich sitze jeden Tag am Schreibtisch. Jetzt gehe ich jeden Tag mit meinem Kind in den Wald. Wir streifen Stunden um Stunden am Fluss herum und kommen in Gegenden, in denen wir früher nie waren.

Ist das, was Sie und wir alle gerade erleben, auch möglicher literarischer Stoff der Zukunft?
BIRNBACHER: Da ich jetzt entgegen meiner Erwartung dieses Frühjahr zur Ruhe komme, finde ich Gelegenheit und Kraft, über etwas Neues, das ich skizzenhaft schon länger mit mir herumtrage, nachzudenken. Ich spüre die Lust zu schreiben und diese ersten Umrisse etwas genauer auszumalen.

Birgit Birnbacher. "Ich an meiner Seite". Zsolnay. 268 Seiten, 23,70 Euro
Birgit Birnbacher. "Ich an meiner Seite". Zsolnay. 268 Seiten, 23,70 Euro © KK

In Ihrem neuen Roman „Ich an meiner Seite“ geht es um die soziale Optimierung von Arthur, Ihrer gestrauchelten Hauptfigur. Glauben Sie, dass im gegenwärtigen „Downsizing“ auch die Chance der Rückbesinnung auf das Wesentliche besteht?
BIRNBACHER: Ach, wir optimieren uns doch selbst im Downsizing, im Reduzieren. Oder wie erklären wir uns sonst, dass jetzt auf einmal alle durch die Gegend joggen, weil sie sich fürs Drinbleiben belohnen müssen, quasi als Jo-Jo-Effekt vom Freizeitentzug? Ich bin bei solchen Formulierungen wie die der „nachhaltigen Veränderungen“ immer sehr vorsichtig. Ich glaube eher nicht, dass sich die emotionale Berührtheit, die wir bei diesen Bildern von Delfinen, die bis zum Strand schwimmen, oder dem glasklaren Wasser in Venedig empfinden, in unser tatsächliches Urlaubs- und Freizeitverhalten übertragen wird. Ich persönlich rede da auch leicht, ich bin früher sehr viel gereist und möchte jetzt eigentlich gar nicht mehr fliegen. Mein Verständnis für die, die es als Lebensziel empfinden, einmal ein Selfie auf Bali gemacht zu haben, wird immer weniger.

Haben Sie die „gute Seite“, die diese Pandemie angeblich auch hat, schon gefunden?
BIRNBACHER: Diese Zeit ist doch jetzt wie ein sehr langer Familienurlaub im eigenen Leben. Das kann natürlich manchmal auch ziemlich dicht werden. Aber es ist schon schön zu sehen, dass man mit denen, für die man sich entschieden hat, noch immer am liebsten die Zeit verbringt.

Was fällt der Soziologin in Ihnen auf, wenn Sie das „Menschenvolk“ derzeit beobachtet?
BIRNBACHER: Am interessantesten finde ich eigentlich, dass manche, die man sonst vielleicht eher als autoritäre Charaktere einordnen würde, jetzt darauf erpicht sind, sich von der Regierung nichts vorschreiben zu lassen. Das ist so eine entfesselte Verhaltenslogik, die ich befremdend empfinde: dass eine Meinung oder vielleicht sogar eine Regung gleich viel wiegt wie ein Faktum oder ein Argument. Gut, wir wissen ja, dass es sehr unterschiedliche Weisen gibt, wie man sich Wirklichkeit konstruiert, aber in einer solchen Lage kann das dann schon zum Problem werden. Wenn es zu einer gar nicht so kleinen Strömung wird, dass alle glauben, was sie wollen, weil die denken, dass man nichts glauben kann, dann ist das schon bedenklich und weist halt einmal mehr darauf hin, wie sehr wir auf unabhängige Berichterstattung angewiesen sind. Dass es im Nachhinein einen messbaren Unterschied im Zusammenhalt der Gesellschaft geben wird, glaube ich persönlich eher nicht, aber vielleicht spüren wir nachträglich noch diese Erschütterung darüber, dass wir verwundbar sind, und verwechseln das mit einem Zusammenrücken.

In ihren „Corona-Tagebüchern“ schreiben Sie, „Die Pest in London“ von Dafoe zu lesen war ein Fehler. Welche Lektüre empfehlen Sie stattdessen? Bitte um einige Tipps.
BIRNBACHER: Ich lese mich gerade begeistert durchs Frühjahrsprogramm. Karin Peschkas "Putzt euch, tanzt, lacht" ist ein toller Roman, genauso wie Nava Ebrahimis "Das Paradies meines Nachbarn" oder Helena Adlers "Die Infantin trägt den Scheitel links". Als nächstes freue ich mich auf Valerie Fritschs "Herzklappen von Johnson und Johnson".

Wie kommentieren Sie als „amtierende“ Bachmannpreisträgerin das Hin und Her bezüglich der Austragung bzw. Nichtaustragung des Bachmannpreises in diesem Jahr?
BIRNBACHER: Für die Teilnehmenden und auch für uns als Publikum wünsche ich mir sehr, dass der Bachmannpreis in diesem Sommer stattfindet. Da ich das Team ja kennenlernen durfte, bin ich sehr zuversichtlich, dass ein Weg gefunden wird, mit dem alle gut leben können, und dass wir im Sommer eine(n) neue(n) Bachmannpreisträger(in) feiern dürfen.

In Ihrem Roman wird Arthur von seinem Therapeuten Börd angeleitet, quasi ein „Fake-Profil“ von sich selbst anzufertigen. Spielen wir nicht alle eine bestimmte Rolle?
BIRNBACHER: Arthur steht vor einer Entscheidung: Tut er, was sein wahnsinniger Therapeut von ihm will und lässt er sich darauf ein, dieses Fake-Profil von sich zu kreieren, oder bleibt er seinem Gefühl treu, dass das nie und nimmer gutgehen kann. Börd gibt sich ja relativ wahrhaftig, er steht offen zu seinen Unzulänglichkeiten, zumal er sie ja gar nicht verbergen kann. Aber ist das deswegen besser? Während Börd Arthur von Sitzung zu Sitzung erklärt, wie er ein Besserer wird, steigt er selbst ja immer weiter die gesellschaftliche Statusleiter nach unten, bis er schließlich sogar seinen Job verliert. Was ich damit sagen will, ist:Das Rollenspielen schützt uns ja auch vor uns selbst. Wenn wir einzig der Wahrhaftigkeit nachgeben, leben wir wahrscheinlich nicht lang. Aber der Balanceakt ist manchmal schon spannend, und so habe ich das auch in der Beziehung zwischen Arthur und seinem Therapeuten gesehen: Sie spiegeln sich ineinander nicht nur im Auf- und Abstieg, sondern auch in ihrer jeweiligen Wahrhaftigkeit und Lebenslüge.

Ihr Ton ist geprägt von empathischer Gelassenheit. Wäre das auch der geeignete Sound im Umgang mit der Coronakrise?
BIRNBACHER: Zu viel Gelassenheit fände ich im Moment eher unangebracht. Jetzt kommen die Osterfeiertage, es wird warm und schön. Der Mensch vergisst seine eigene Krise so schnell.