Der europäische Kolonialismus ist keine Sache von gestern, sondern er blüht und gedeiht auf dem eigenen Kontinent. Sudabeh Mortezais neuer Spielfilm "Europa" ist ein kritischer Einblick in die Auswüchse des modernen Kapitalismus. Der Film der österreichischen Regisseurin feiert am Mittwoch (16. August) seine Weltpremiere im Wettbewerb des Sarajevo Film Festivals und kommt am 3. November in die heimischen Kinos.

"Die Bienen sind ihm heilig", sagt die Tochter (Steljona Kadillari) über ihren Vater Jetnor (Jetnor Gorezi). Eine deutsche Managerin, herrlich gefühllos gespielt von Lilith Stangenberg ("Wild"), ist nach Albanien gekommen, um das Land des alten Mannes zu kaufen. Sie hat einen Hauch dieser kontrollierten Strenge von Sandra Hüllers Unternehmensberaterin in Maren Ades "Toni Erdmann". Um als Frau in dieser Welt zu bestehen, kann man keine Rücksicht auf menschliche Verluste nehmen.

Auch wenn die blonde Managerin versucht, ihre wahren Gefühle vor den Bauern zu verbergen, so kann man den Ekel in den blauen Augen der Schauspielerin aufblitzen sehen, wenn ihr jemand einen gebackenen Lammkopf vor die Nase stellt oder hausgemachte Spezialitäten in den Mund stopft. Die titelgebende Firma, bei der sie arbeitet, will am Balkan expandieren. Angeblich um Gutes zu tun. Um "seiner Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen", sagt die Managerin zu Jetnor. Man muss sich beim Betrachten wirklich fremdschämen. Die Firma schert sich natürlich keinen Deut um die Tochter. Was Europa braucht, ist das Land in einem albanischen Tal. Die Zwecke sind undurchsichtig. Und der zweideutige Titel des Films bewusst provokant gewählt.

Aber der Mann hat nicht vor, sein Land zu verkaufen. Er will hier begraben werden. Die Westlerin ist irritiert. Sie kann nicht verstehen, warum jemand unter solchen Bedingungen leben wollen würde. Die Menschen sind arm. Es gibt keine Infrastruktur. Alles fällt auseinander. "Wir wollen nicht nur nehmen, sondern der Gemeinschaft etwas zurückgeben", verspricht sie ihm in einem geheuchelten Ton. Er würde sogar eine Gnadenfrist bekommen, um seine geliebten Bienenvölker umzusiedeln. Aber der Albaner, ein Bektaschi-Muslim, durchschaut die reiche Fremde. Nein, sie solle gefälligst verschwinden.

Hier im Süden Albaniens, wo Sudabeh Mortezai nach "Macondo" und "Joy" ihren dritten Spielfilm mit Mitteln des Österreichischen Filminstituts, Filmfonds Wien, dem ORF und Film4 gedreht hat, leben strenggläubige Bektaschi im Schatten einer heiligen Pilgerstätte, dem Berg Tomorr. Die Männer hier sind alt und stur. Ihre Ehefrauen scheinen sich mit dem Patriarchat abgefunden zu haben, aber ihre Töchter schauen sehnsüchtig gen Westen. Sie wollen studieren und Karriere machen - so wie die Deutsche. Die wird im Laufe des Films unfreiwillig so viel Raki trinken (Alkohol ist bei den schiitischen Bektaschi von ganz oben abgesegnet), bis der Bauer den Vertrag unterzeichnet hat und sie wieder nach Hause fliegen kann.

Spürbar ist in "Europa" nicht nur die treffsichere Gesellschaftskritik am reichen Westen, der unter dem Deckmantel europäischer Werte wie Egalität und Fortschritt alles zermalmt, sondern ein tiefer Respekt, den Mortezai, die Tochter iranischer Eltern, vor der fremden Kultur hat. Durch ihre semi-dokumentarischen Augen ist Albanien ein wunderschönes Durcheinander von Pilgerfesten, Bergen und Tälern, und satt-grünen Wäldern. Aber Albanien ist auch ein vergessenes Land mit Geisterstädten und Überbleibseln der kommunistischen Diktatur von Enver Hoxha, der eine riesige Waffen- und Munitionsproduktionsanlage erbauen ließ, heute eine von der Natur überwucherte Industrieruine, die im Film beeindruckender Weise vorkommt. Mortezai findet echte Menschlichkeit in der fast heruntergekommenen Atmosphäre, steht ganz auf der Seite derer, die von der Moderne mit Füßen getreten werden.

Es muss sich etwas ändern, aber jemand muss den Preis dafür bezahlen, so der eindringliche Appell ihres Films - und wenn es in einer schmerzlichen Szene die Bienen sind, diese kleinen, wichtigen Arbeiter, die uns vielleicht wie kein anderes Tier vom Zustand der Welt erzählen - und der ist nicht besonders gut.