Daniel Kehlmann ist am Mittwochabend in Wien mit dem Anton-Wildgans-Literaturpreis der Österreichischen Industrie ausgezeichnet worden. Seine Dankesrede nutzte der 44-Jährige zu einem Frontalangriff gegen den "jungen Kanzler" und die "alte ÖVP", die sich nicht von ihrem Koalitionspartner distanziere. "Die Demokratie ist in Gefahr in der westlichen Welt. Sie ist besonders in Gefahr in Österreich."

Kehlmann begann seine Rede mit der Erinnerung an seine erste Lesung vor 23 Jahren. Schon damals, auf der Weihnachtsfeier des Deuticke Verlags, habe die allererste Frage an ihn gelautet: "Schreibst Du auch was Österreichisches?" Bei einem "so prononciert österreichischen Preis" wie dem Wildgans-Preis habe er sich daher die Frage stellen müssen: "Steht er mir eigentlich zu?" Sein Werk nehme schließlich "inhaltlich nur lockeren Bezug zu Österreich", er sei in München geboren und besitze beide Pässe. "Für Österreicher, es ist mir oft genug gesagt worden, klinge ich immer deutsch. (...) Dabei liebe ich Wien. Ich liebe es besonders, seit ich hier nicht mehr lebe." Er sei "natürlich geprägt" von der Literatur eines Ödön von Horváth und eines Joseph Roth, eines Musil, Doderer oder Kraus. "Geprägt bin ich auch durch den langen Doppelschatten Kurt Waldheims und Jörg Haiders."

Dadurch komme es ihm vor, "als ich hätte einen unverdienten Erfahrungsvorsprung", wenn er nun in der ganzen Welt über den sich überall ausbreitenden neuen Nationalismus und Tribalismus diskutieren müsse: "Das ist ein weltzerstörerisches Phänomen, das einen Österreicher nicht weiter überraschen kann."

2009 habe Georg Kreisler in Salzburg vor der sich abzeichnenden Rückkehr des Faschismus gewarnt. Nun stelle sich heraus: "Er war klarsichtiger als wir anderen. Denn der Ernstfall ist eingetreten." Wenn Politiker immer wieder versicherten, die letzte Instanz sei das Wahlergebnis, so stimme das nicht ganz: "Die letzte Instanz ist das Urteil der Nachwelt. (...) Ich möchte unseren schweigenden Kanzler fragen, ob er sich darüber klar ist, dass künftige Geschichtsbücher ihn als den Mann bewahren werden, der es einer rechtsextremen Partei ermöglicht hat, diesem Land in seinem äußeren Bild und seinem inneren Gefüge Schaden zuzufügen, der so bald nicht mehr in Ordnung zu bringen ist. Draußen in der Welt wird Österreich inzwischen zuverlässig neben Trumps Amerika, Orbans Ungarn und Bolsonaros Brasilien genannt."

"Wollen Sie die Farce nicht beenden?"

Er wolle daher den Kanzler fragen: "Möchten Sie wirklich der Mann sein, der das bewirkt hat? Möchten sie tatsächlich von künftigen Historikern beschrieben werden als jener Regierungschef, der einen das parlamentarische System, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit offen verachtenden Innenminister ermöglicht hat und neben sich einen ehemaligen Neonazi als Vizekanzler geduldet hat? Sie sind jung genug. Sie werden diese Geschichtsbücher noch lesen können. Wollen Sie die Farce nicht beenden?"

Kehömann mit seiner Laudatorin Barbara Neuwirth
Kehömann mit seiner Laudatorin Barbara Neuwirth © APA/HERBERT PFARRHOFER

Dazu stellte er weitere Fragen in den Raum: "Möchte die Österreichische Volkspartei wirklich weiterhin alles hinnehmen, was in ihrem Namen passiert? Möchten nicht in Wahrheit viele ihrer Entscheidungsträger endlich jene Gestalten, deren dummdreiste Vulgarität Ämter herabwürdigt, die man ihnen nie hätte anvertrauen dürfen, nach Hause schicken und dafür sorgen, dass man die Luft in diesem Land wieder atmen kann? Es liegt wirklich bei Ihnen, beim jungen Kanzler, bei der alten ÖVP." Jetzt habe er sich tatsächlich zu einem Appell verstiegen, endete Kehlmann. Das werde wohl daran liegen, dass er mit diesem Preis nun auch "hochoffiziell und nachweislich" ein österreichischer Autor sei.

Ein Meister des Erzählens

Derartig deutlichen Worten spendeten viele, aber nicht alle im Publikum Beifall. Dabei hatte die Preisverleihung ganz harmlos und routiniert begonnen. Der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Christoph Neumayer, nannte bei der vom Damensaxophonquartett "Saxophisticated" musikalisch begleiteten Feier im Haus der Industrie Kehlmann "eine ausgezeichnete Wahl". Der Autor, dessen bisheriges Leben ihn von Wien nach Berlin und in die USA geführt habe, verkörpere als Deutscher, Österreicher und mittlerweile New Yorker den modernen Weltbürger, so Neumayer. Und er stehe für eine "Literatur, die auch historisch bildet".

"Daniel Kehlmann ist ein Meister des Erzählens, dessen Prosa und auch dramatische Werke auf einem reichen Wissenshintergrund basierend durch virtuoses Spiel mit den Stoffen, seinen eleganten Stil und große Fantasie faszinieren und unterhalten", sagte die Schriftstellerin Barbara Neuwirth, die Mitglied der Jury war, in ihrer Laudatio. "Stilsicher verwebt er Texte zu intellektuellen und sinnlichen Leseerfahrungen, bricht die Oberfläche der Wahrnehmung auf, entfaltet mit großer Kunstfertigkeit die Magie hinter der Geschichte." Sie verwies auch auf die zahlreichen Bühnen-Adaptionen und Verfilmungen seiner Romane, auf seine Stücke, sowie auf seine Kritik am "Regietheater", die er 2009 bei seiner Festspiel-Eröffnungsrede in Salzburg formuliert hatte.

Kehlmann wurde am 13. Jänner 1975 als Sohn des Regisseurs Michael Kehlmann in München geboren und studierte an der Universität Wien Philosophie und Germanistik. Sein erster Roman "Beerholms Vorstellung" (1997) galt unter Kritikern bereits als "Fall von früher Meisterschaft". 2003 erschien Kehlmanns ironischer Künstlerroman "Ich und Kaminski", zum Bestseller wurde sein 2005 erschienener Roman "Die Vermessung der Welt" über die beiden Forscher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Es folgten weitere Romane wie "Ruhm" (2009), "F" (2013) oder zuletzt "Tyll" (2017) sowie Bühnenwerke wie "Geister in Princeton" (2011), "Der Mentor" (2012), "Heilig Abend" (2017) und zuletzt "Die Reise der Verlorenen" (2018). Kehlmann wurde unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Doderer-Preis, dem Kleist-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Hölderlin-Preis und dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet.

Der mit 15.000 Euro dotierte Wildgans-Preis wird seit 1962 an österreichische Autoren "der jüngeren oder mittleren Generation" vergeben, "dessen oder deren Werk von hervorragender Relevanz für die literarische und gesellschaftliche Korrelation unserer Zeit ist". Unter den Preisträgern befinden sich u.a. Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Michael Köhlmeier, Arno Geiger, Olga Flor, Norbert Gstrein, Robert Seethaler, Erich Hackl und im Vorjahr Sabine Scholl.