Haben Sie das Gefühl, in einer florierenden Kulturnation zu leben?

MARTIN GRUBINGER: Zu Hause beschleichen mich immer wieder Zweifel, aber wenn ich im Ausland bin, macht mich der Vergleich sicher, dass wir noch immer sehr aktiv sind.

Was macht Sie da so sicher?

GRUBINGER: Wir haben das Glück, dass viele der ganz großen Komponisten in Österreich gelebt und gewirkt haben, dass wir fantastische Festivals und großartige Konzertsäle haben, international anerkannte Orchester und für ein kleines Land mit acht Millionen Einwohnern eine unglaubliche Dichte an Künstlern besitzen. Dazu kommt die Tradition der Blasmusiken und Chöre. Es gibt also in der Breite und in der Spitze viele, die Österreich als Kulturnation repräsentieren.

Aber die Konkurrenz in anderen Ländern schläft nicht.

GRUBINGER: Natürlich sehe ich die Gefahr, dass wir uns auf dieser Tradition und Vergangenheit ausruhen und vergessen, dass man beispielsweise in Skandinavien, aber auch in Asien oder Südamerika, was die Zukunft von Kunst und Kultur betrifft, sehr viel aktiver ist. Da müssen wir uns als das klassische Kulturland anstrengen. Kunst und Kultur ist unser Markenzeichen, das wir in die Welt transportieren.

Man könnte ja einige Botschaften schließen und stattdessen Kunst- und Kulturinstitute im Ausland eröffnen.

GRUBINGER: Ich muss Ihnen jetzt etwas erzählen: Meine Frau ist Pianistin, Österreicherin, stammt aber aus der Türkei. Wenn sie im Ausland spielt, kommt es sehr oft vor, dass der türkische Botschafter vor Ort ist und Leute einlädt. Ich selbst habe in all den Jahren bei keinem meiner Konzerte im Ausland einen österreichischen Botschafter getroffen.

Gekränkt?

GRUBINGER: Nein, nicht falsch verstehen: Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun, aber wenn ich Botschafter bin und ein Gast aus meiner Heimat kommt, wäre es doch normal, Präsenz zu zeigen. Da wundere ich mich immer ein bisserl. Kunst ist ja zentraler Bestandteil der österreichischen Identität im Ausland. Sosehr ich die Leistungen von Hermann Maier, Marcel Hirscher und Anna Fenninger anerkenne und mit ihnen mitfiebere: Aber es gibt eben große Teile der Welt, die keinen Bezug zum Skisport haben. Die Wiener Philharmoniker dagegen, Mozart, Bruckner - die kennt man überall.

Verengen wir unser Selbstverständnis von Hochkultur nicht auf das Übliche? Bei der Musik auf die Klassik, bei der Malerei auf die Moderne, beim Theater fangen wir bei "Jedermann" an und hören bei Nestroy und Grillparzer auf.

GRUBINGER: Das sehe ich auch so. So wichtig die für uns sind, aber gerade auch die öffentliche Hand sollte ihren Fokus verstärkt auf die Nischen, auf die interessanten Kunst- und Kulturprojekte der Zukunft legen. Wir müssten jetzt viel mehr Initiativen setzen und die verstärkt unterstützen, die in der Musik, der Malerei, der experimentellen Kunst, im Tanz oder der Literatur noch in Nischen blühen, aber in 40 bis 50 Jahren die großen Meister sind. Das wäre ein Signal. Die große Vergangenheit haben wir ohnehin. Jetzt geht es darum, die Basis für eine große Zukunft zu legen.

Wie könnten Sie sich diese Unterstützung vorstellen?

GRUBINGER: Es wäre großartig, wenn heimische Künstler oder Orchester wie die Wiener Philharmoniker bei ihren Auftritten im Ausland viel öfter zeitgenössische Musik aus Österreich und Europa aufführen würden, um zu zeigen: Ja, wir haben den Brahms, den Bruckner, den Mahler - aber auch ganz große Meister unserer Zeit. Und die spielen wir auch, weil wir zu ihnen stehen, weil sie unsere Tradition in den nächsten Jahrzehnten definieren werden. Da müssten wir viel aktiver sein.

Aber bei den heimischen Festivals und Konzerten wird ja auch vor allem auf die Heroen der Vergangenheit zurückgegriffen.

GRUBINGER: Auch die Veranstalter, also die großen Konzerthäuser, Festivalorganisatoren oder Orchestermanager müssten umdenken und radikal umbauen. Zum Beispiel bei den Salzburger Festspielen, wo man nicht nur eine oder zwei zeitgenössische Opern aufführen sollte und das übrige Programm mit dem traditionellen Repertoire bestreitet, sondern es genau umdreht.

Da wird Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler aber Atemnot bekommen.

GRUBINGER: Absolut. Ich habe ein Talent nicht: Diplomatie. Aber ich glaube zutiefst daran, dass es in unserem Kulturbetrieb ein Umdenken braucht. Ich bemerke die Bereitschaft dazu auch beim Publikum. Es ist offen, wenn es merkt, dass der Künstler dafür mit Haut und Haaren brennt.

Olga Neuwirth hat zuletzt geklagt, dass Komponisten eine aussterbende Spezies seien. Wohl auch, weil es an entsprechenden Förderungen fehlt. Aber ist das nur eine Aufgabe der öffentlichen Hand oder mangelt es auch am privaten Mäzenatentum?

GRUBINGER: Natürlich könnte es mehr sein. Wir sollten als Künstler bei den Geld gebenden Institutionen nicht immer nur als Bittsteller auftreten, sondern uns selbstbewusster als echten wirtschaftlichen Faktor verstehen. Denn was die Republik an Wertschöpfung über internationale Besucher zurückbekommt, ist ein Vielfaches dessen, was sie in Kunst und Kultur investiert.

Tragen die Künstler Mitschuld am Bedeutungsverlust?

GRUBINGER: Möglich. Immer nur zu klagen, dass etwas nicht unterstützt wird, ist sicher zu wenig. Es geht auch darum, dass wir Künstler uns an der eigenen Nase nehmen und uns fragen müssen, ob wir diese Art von Kunst richtig präsentieren - mit einer Leidenschaft, die den Funken aufs Publikum überspringen lässt. Oder ist es so, dass wir das Werk von Olga Neuwirth oder Friedrich Cerha im ersten Teil des Konzerts realisieren und im zweiten Teil dann die Mozart- oder Beethoven-Sinfonie interpretieren?

Das klassische Kunstpublikum folgt dem demografischen Trend zur Überalterung. Wie kann bei der Jugend wieder Breitenwirkung erzeugt werden?

GRUBINGER: Es ist die Frage, wie Musik in Kindergärten, an Schulen und an Universitäten vermittelt wird. Haben wir diese begeisterungsfähigen Lehrer? Bilden wir sie entsprechend aus? Wenn die Kinder und Jugendlichen in jungen Jahren Feuer fangen für die Künste, dann trägt dies für ein Leben lang. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Künste nicht nur eine Randerscheinung sind, sondern auch eine ganz zentrale Rolle in der Bildungsdiskussion spielen müssten.