Eines war vor dem abendlichen Gespräch zwischen Boris Johnson und Ursula von der Leyen jedenfalls klar. Eine Fortsetzung der unendlichen Geschichte des britischen EU-Austritts wird es im nächsten Jahr nicht geben. „Ich kann das ausschließen“, sagte der britische Premier zu einer Verlängerung der Post-Brexit-Gespräche ins Jahr 2021. Allerdings will er bis zur letzten Minute mit der EU-Kommissionspräsidentin über ein Handelsabkommen verhandeln.

„Die Zeit wird knapp, und wir sind in der Endphase“, sagte sein Sprecher. „Aber wir sind zu Verhandlungen bereit, solange wir Zeit haben, falls wir glauben, dass eine Einigung noch möglich ist.“ Den Europaabgeordneten berichtet EU-Unterhändler Michel Barnier, dass noch bis Donnerstagfrüh verhandelt werden könne. Dann treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zum Gipfel.

Brexit-Streit überschattet Massenimpfung

Der Streit überschattet eine Aktion, die der britischen Wirtschaft neben einem Abkommen noch einen entscheidenden Impuls liefern könnte. Im Vereinigten Königreich sollen heute die ersten Menschen gegen das Coronavirus geimpft werden. Es ist die erste Massenimpfung dieser Art in einem westlichen Land. Und damit der sich abzeichnende harte Brexit nicht schon jetzt zum Hindernis wird, will Johnsons Regierung das in Belgien produzierte Präparat notfalls mit Militärflugzeugen einfliegen. Damit es nicht im befürchteten Verkehrschaos stecken bleibt.

Die Vorbereitungen laufen jedenfalls seit Tagen in den Spitälern auf Hochtouren. Überall kamen am Wochenende die ersten Boxen mit dem Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech und des US-Pharmakonzerns Pfizer an. Das Vakzin ist für die Logistiker eine Herausforderung, muss das Präparat doch bei minus 70 Grad Celsius gekühlt werden. Insgesamt hat London 40 Millionen Dosen geordert. Da jeder Brite zwei Dosen erhält, wäre dann ein Drittel der Bevölkerung geimpft.

V-Day

Gesundheitsminister Matt Hancock sprach angesichts des „Wendepunkts“ in der Pandemie vom „V-Day“ (V für Vaccination bzw. Impfung) – in Anlehnung an den D-Day, der Landung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg in Frankreich. Geimpft werden zunächst über 80-Jährige, Mitarbeiter in Alten- und Pflegeheimen sowie Medizinpersonal. Doch der Impfprozess dürfte sich – anders als der Brexit – bis weit ins nächste Jahr hinziehen. Impfzentren in Messen und Fußballstadien sollen laut nationalem Gesundheitsdienst NHS erst geöffnet werden, wenn große Mengen des Impfstoffs geliefert wurden. Das Programm werde „ein Marathon, kein Sprint“, sagte NHS-Chef Stephen Powis.

Österreichische Wirtschaft durchaus optimistisch

Die Wirtschaft schaut dennoch optimistisch auf die Impfungen in unsicheren Zeiten. „Das Virus ist im Königreich auf einen durch Brexit-Geburtswehen geschwächten Gegner getroffen und auf demografisch, strukturell sowie politisch fruchtbaren Boden gefallen“, sagt Christian Kesberg, Wirtschaftsdelegierter der WKO in London. „Alles, was zum Neustart der schwer betroffenen britischen Wirtschaft irgendwie beiträgt, ist eine gute Nachricht.“ Allerdings, so betont Kesberg, würden vier Millionen Dosen Impfstoff, die noch heuer ausgeliefert werden sollen, weder an einem Minus bei der Wirtschaftsleistung von elf bis zwölf Prozent für 2020 noch daran etwas ändern, dass die Briten erst 2023 – und damit später als andere – wieder in die volkswirtschaftliche Gewinnzone zurückfinden. „Nach Monaten auf dem Nebengeleise überlagert der Brexit-Endspurt wirtschaftlich zur Zeit vieles.“

„Der Abgang aus Zollunion, Binnenmarkt und harmonisiertem Umsatzsteuergebiet kostet die Briten zusätzlich zur Covid-Rezession vier bis acht Prozent Wirtschaftsleistung über die nächsten zehn Jahre und trifft mittel und langfristig vor allem Sektoren, die weniger von der Pandemie betroffen waren“, so Kesberg. Ein mageres Freihandelsabkommen, das Zölle und Quoten auf null stellt, helfe nach seinen Worten der britischen Automobilindustrie und ihren Zulieferern, ändere aber leider am Gesamtergebnis weniger als man glaubt.
„Das Geschäft mit Großbritannien wird für österreichische Unternehmen schwieriger und teurer“, sagt Kesberg, „aber für alle, die ihre Hausübungen gemacht haben oder zumindest dabei sind, weder unmöglich noch unprofitabel.“