Die meisten kommen schwimmend. Einige sitzen in kleinen Gummibooten. Oder sie klammern sich an aufgeblasene Reifenschläuche. Manche schaffen es sogar, ohne nasse Füße zu bekommen und kletterten über die Steine des Grenzdamms, der an der Küste Ceutas Spanien von Marokko trennt.

Tausende erreichten auf diese Weise in den letzten Stunden spanischen Boden. Erschöpft liegen einige der Angekommenen im Sand. Andere rennen jubelnd über den Strand und rufen „Viva España“ (Es lebe Spanien). Schätzungen zufolge haben bis zum Dienstagnachmittag annähernd 10.000 Menschen die Grenze überwunden.

Größter Ansturm

Spaniens Nordafrika-Küstenstadt Ceuta, die von marokkanischem Territorium umgeben ist, erlebt derzeit den größten Ansturm von Flüchtlingen und Migranten, an den sich die 80.000 Bewohner erinnern können. „Wir haben hier schon viel gesehen“, sagt Rot-Kreuz-Sprecherin Isabel Brasero. „Aber noch nie sind in so kurzer Zeit so viele Menschen gekommen.“

Der konservative Bürgermeister der spanischen Exklave, Juan Jesús Vivas, berichtet von chaotischen Szenen und dass sich die Stadt in einer Art Ausnahmezustand befinde. Die Bevölkerung habe Angst. „Unsere Stadt erlebt eine Invasion.“

Die Bilder, die aus Ceuta kommen, sind martialisch: Am Strand Tarajal, im Süden der Stadt, sind Truppentransporter der spanischen Streitkräfte aufgefahren. Soldaten und Polizisten haben die Bucht, die direkt an Marokko grenzt, abgeriegelt. In der Luft kreisen Hubschrauber, auf dem Wasser patrouillieren spanische Grenzschutzboote.

Die spanischen Sicherheitskräfte hindern die Menschen nicht daran, aus dem Wasser zu klettern und europäischen Boden zu erreichen. Aber sie sorgen dafür, dass die Ankommenden nicht in den Gassen der Stadt verschwinden. Eine Lagerhalle und das örtliche Fußballstadion dienen als provisorische Auffanglager.

Sie müssen mit Abschiebung rechnen

Die meisten Angekommenen müssen mit sofortiger Abschiebung rechnen, sagt Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska, der am Dienstagnachmittag nach Ceuta reiste. Annähernd 3000 Migranten seien schon Stunden nach ihrer Ankunft wieder nach Marokko abgeschoben worden. Nach Berichten von Augenzeugen sollen darunter auch zahlreiche Minderjährige sein, deren Deportation eigentlich verboten ist.

"Die Grenze ist offen"

Der Migrantensturm auf Ceuta begann zu Wochenbeginn am frühen Morgen. Wie auf ein geheimes Signal verschwanden die marokkanischen Polizisten, die üblicherweise die Schutzdämme an der Wassergrenze bewachen. „Die Grenze nach Ceuta ist auf“, konnte man in sozialen Netzwerken in Marokko lesen.

Der Hintergrund

Der Rückzug der marokkanischen Grenzer war kein Zufall: Marokkos launiger König Mohammed VI. benutzt regelmäßig die Migrationspolitik, um Druck auf Spanien und Europa auszuüben. Je nach politischer Wetterlage lässt er die Kontrollen an seinen Küsten lockern oder verstärken. Das bekamen schon die Kanarischen Inseln zu spüren, die in 2020 einen gewaltigen Migrantenandrang aus Marokko erlebten.

Dieses Mal erzürnte Mohammed offenbar, dass Spanien dem Chef der Polisario-Befreiungsbewegung Brahim Gali, Marokkos Staatsfeind Nummer eins, eine Krankenhaus-Behandlung im spanischen Logroño ermöglichte. Das sei eine „Kriegserklärung“, sagten marokkanische Diplomaten. Die Polisario kämpft für die Unabhängigkeit der von Marokko besetzten Westsahara, die bis 1975 spanisches Kolonialgebiet war.

Die Nachricht von der unbewachten Wassergrenze in Ceuta verbreitete sich in Marokko wie ein Lauffeuer. Aus den umliegenden Dörfern und Städten zogen Karawanen von Marokkanern zu den Sperrdämmen, welche die Wassergrenze zu Ceuta markieren.

Ganze Familien brachen auf

Man sah vor allem junge Männer, die besonders unter der Perspektivlosigkeit und Wirtschaftsmisere in Marokko leiden. Auch ganze Familien brachen auf. Mütter mit Babys im Arm. Einige mit Rucksäcken oder sogar mit einem Koffer in der Hand. Doch die meisten kamen nur mit dem, was sie auf dem Leibe trugen.

In Ceuta versuchten in der Vergangenheit immer wieder schwarzafrikanische Migranten den sechs Meter hohen Grenzzaun zu überwinden, der mit EU-Hilfe gebaut wurde. Manche starben dabei, weil sie vom Zaun fielen oder sich schwere Verletzungen im Stacheldraht zuzogen.

Auch dieses Mal bezahlte wenigstens ein Schutzsuchender seinen Traum, nach Europa zu gelangen, mit dem Leben. Er konnte nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden. Zwei weitere Migranten, die mit Herzstillstand angetrieben wurden, konnten wiederbelebt werden.

Spaniens sozialistischer Regierungschef Pedro Sánchez kündigte am Dienstag an, dass er die Sicherheitskräfte in Ceuta weiter verstärken werde. Man werde mit allen Mitteln die Unversehrtheit der spanischen Nordafrika-Besitzung, die schon länger von Marokko beansprucht wird, verteidigen. 

Einsatz von Frontex?

Auch die Europäische Kommission sagte Unterstützung zu: „Spanische Grenzen sind europäische Grenzen“, erklärte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Marokko müsse seine Pflicht erfüllen und die Grenzen kontrollieren. Wenn dies nicht geschehe, sei Europa auch bereit, die europäische Grenzschutzeinheit Frontex nach Ceuta zu schicken.