Die Erdbebenserie in der türkischen Metropole Istanbul reißt nicht ab. Der Katastrophendienst Afad meldete Donnerstagfrüh zahlreiche weitere Nachbeben, darunter eines der Stärke 4,6. Insgesamt verzeichnete Afad nach dem schweren Erdstoß am Mittwoch mit der Stärke 6,2 bisher gut 300 weitere Beben - alle entlang der tektonischen Gräben im Marmarameer. Etliche Menschen haben die Stadt aus Angst vor einem großen Beben verlassen.

Nach Angaben von Gesundheitsminister Kemal Memişoğl auf der Plattform X gab es insgesamt 236 Verletzte - davon 173 in Istanbul, die übrigen in anderen Provinzen. Ihm zufolge wurden 15 Menschen noch in Krankenhäusern behandelt. Manche der Betroffenen hätten sich bei dem Versuch verletzt, sich mit Sprüngen aus Gebäuden in Sicherheit zu bringen. Laut Städtebauminister Murat Kurum (AKP) wurden zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert.

Seismologen und Geologen, die in türkischen Medien zu Wort kommen, gehen in der Mehrzahl davon aus, dass ein großes Beben noch bevorsteht. Wann das der Fall sein könnte, kann niemand sagen - doch die Stärke könnte 7,4 betragen, manche Fachleute rechnen sogar mit einer Magnitude von 7,7.

Langfristig gesehen „Zeitpunkt erreicht, Istanbul zu verlassen“

Über die Frage, was mit Blick auf ein weiter drohendes größeres Erdbeben zu tun sei, sagte Geologe Celal Sengör von der Technischen Universität Istanbul in einem Interview, es sei zunächst bedenkenlos möglich, in Häuser ohne offensichtliche Schäden zurückzukehren. Langfristig gesehen aber sei nun „der Zeitpunkt erreicht, Istanbul zu verlassen“. Sengör zog mit dieser Aussage umgehend Kritik von der regierenden AKP auf sich. Ein Chefberater von Präsident Recep Tayyip Erdogan nannte Sengör nach dessen Aussage in einem Beitrag auf X einen „Idioten“.

Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Mehr als eine Million Gebäude in Istanbul gelten als nicht erdbebensicher. Afad warnt vor dem Betreten gefährdeter Gebäude. „Aufgrund der Nachbeben ist es wahrscheinlich, dass Erdbeben bis zu einer bestimmten Stärke für eine gewisse Zeit auftreten werden“, hieß es. Viele Menschen verbrachten die Nächte im Freien und schlugen etwa in Parks oder auf anderen Grünflächen Zelte auf, wie türkische Medien berichteten.
Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Mittwochabend: „Unsere Bürger können beruhigt sein. Als Staat werden wir weiterhin rund um die Uhr mit allen unseren Einheiten in Alarmbereitschaft bleiben und für unsere Nation arbeiten, die Situation unter Kontrolle zu haben.“

Der inhaftierte und abgesetzte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu kritisierte die Regierung am Mittwoch dafür, eine Erneuerung der Stadt versäumt zu haben. Imamoglu gilt als aussichtsreichster Konkurrent Erdogans bei einer zukünftigen Wahl. Seine Verhaftung im Zusammenhang mit Terror- und Korruptionsvorwürfen wird weithin als politisch motiviert eingestuft. Er sitzt derzeit im Marmaragefängnis in Silivri, wenige Kilometer vom Epizentrum des stärksten Bebens entfernt.

Zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert

Laut dem Istanbuler Gouverneursamt gab es zunächst keine Berichte über eingestürzte Gebäude. Die Bürger wurden gebeten, Ruhe zu bewahren und sich beschädigten Gebäuden nicht zu nähern. Der Minister für Verkehr und Infrastruktur, Abdulkadir Uraloglu, schrieb auf der Plattform X, es seien bei einer ersten Bestandsaufnahme keine Schäden an Straßen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt worden. Laut Städtebauminister Murat Kurum (AKP) wurden zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert.

Das Beben hatte zahlreiche Menschen in der Stadt auf die Straße stürmen lassen. Berichten des Staatssenders TRT zufolge holten Menschen ihre Angehörigen aus Krankenhäusern. Teilweise waren Telefonnetz und Internet gestört. Viele Flüge aus Istanbul waren am Mittwochabend ausgebucht, auch auf den Straßen hatten sich über Stunden Autos gestaut.

Beben führte zu Stadtflucht aus Istanbul

Nach dem schweren Erdbeben und den andauernden Nachbeben in Istanbul registrieren Hotels entlang der türkischen Ägäisküste einen deutlichen Anstieg der Hotelbuchungen. Flugtickets ab Istanbul in andere Städte der Türkei waren am Abend des Bebens und auch am Donnerstag nicht mehr zu erhalten, berichtete eine dpa-Reporterin. Auf den Websites der Fluglinien seien alle Flüge ausgebucht gewesen.

Orhan Belge, Präsident der Vereinigung der touristischen Hoteliers und Betreiber von Çeşme, berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur Anadolu von einer merklichen Zunahme der Anfragen an der Küste seit dem Beben. „Wir beobachten eine verstärkte Bewegung in Richtung Çeşme.“

Die Hotels in der beliebten Urlaubsregion verzeichneten vermehrte Reservierungsanfragen. In Istanbul war wegen der Erdbeben der Schulunterricht für zwei Tage ausgesetzt worden und durch das anstehende Wochenende ergebe sich eine viertägige „Ferienperiode“.

Zwischen Panik und Alltag

Doch längst nicht alle können oder wollen abreisen, obwohl Experten immer wieder betonen, dass es zu einem noch stärkeren Erdbeben kommen könnte. Manche Bekannte seien etwa gebeten worden, auf jeden Fall zur Arbeit zu kommen, berichtete die dpa-Reporterin. Für jene, die nicht zurück in ihre Häuser wollen, hat der Türkische Rote Halbmond damit begonnen, Lebensmittel in Sammelunterkünften bereitzustellen, berichtete der Staatssender TRT Haber.