Nach dem Anschlag auf eine Gruppe von Demonstranten in München mit 39 Verletzten gehen Ermittler von einem islamistischen Motiv des Autofahrers aus. Das sagte die Leitende Oberstaatsanwältin der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München, Gabriele Tilmann, bei einer Pressekonferenz. Es gebe aber bisher keine Hinweise darauf, dass der 24 Jahre alte Afghane in ein Netzwerk eingebunden gewesen sei.
Die Ermittler hätten auch keine Spuren zu einer Verbindung zum Beispiel zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) oder zu weiteren Beteiligten. Die Zahl der Verletzten stieg laut Polizei unterdessen von zuletzt 30 auf 36. Darunter seien zwei Schwerstverletzte, unter ihnen ein Kind.
Als Anhaltspunkte für eine islamistische Motivation nannte Tilmann unter anderem die Aussage von Polizisten, der Fahrer habe nach der Tat „Allahu Akbar“ (Gott ist groß) gerufen. Er habe in einer Vernehmung auch eingeräumt, den Wagen absichtlich in das Ende des Demonstrationszugs der Gewerkschaft ver.di gesteuert zu haben. Die Aussagen deuteten auf eine religiöse Motivation hin, sagte Tilmann. Details zu den Äußerungen während der Vernehmung wollte sie nicht nennen.
Die Ermittlungen stünden zwar noch am Anfang, betonte Tilmann. Sie traue sich aber, nach derzeitigem Stand von der Annahme eines islamistischen Hintergrunds zu sprechen. Unter anderem seien Chats auf dem Smartphone des Fahrers ausgewertet worden.
Antrag auf Haftbefehl wegen versuchten Mordes geplant
Die Generalstaatsanwaltschaft will nun Haftbefehl unter anderem wegen versuchten Mordes in 36 Fällen beantragen. Zudem bestehe ein Verdacht auf gefährliche Körperverletzung und einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Entscheiden werde über eine Untersuchungshaft am Nachmittag ein Ermittlungsrichter.
Bei der Festnahme des Afghanen hatte die Polizei auch auf seinen Wagen geschossen. „Der Täter wurde dabei aber nicht getroffen und durch den Schuss auch nicht verletzt“, hieß es. Den Beamten sei es gelungen, den Täter aus dem Auto zu ziehen, obwohl dieser noch versucht habe, erneut Gas zu geben. Das Auto gehörte laut Polizei dem Fahrer.
Der Afghane hatte sich nach Angaben der Ermittler zuletzt rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Dass erste anders lautende Angaben zu seinem Aufenthaltsstatus und möglichen Vorstrafen des Fahrers im Nachhinein korrigiert werden mussten, begründete der Vizepräsident des Polizeipräsidiums München, Christian Huber, mit Fehlkommunikation in der „Chaosphase“ nach dem Vorfall selbst.
Scholz verspricht schnellere Abschiebungen
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich bestürzt über die Tat und versprach, den Mann schnell in sein Heimatland abschieben zu wollen. „Wer hier keine deutsche Staatsangehörigkeit hat und Straftaten dieser Art begeht, der muss auch damit rechnen, dass wir ihn aus diesem Land wieder zurückbringen, wegbringen und ihn abschieben“, sagte Scholz am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Klartext“.
Das gelte ausdrücklich auch für den Tatverdächtigen, betonte Scholz. „Denn wir werden ihn sicherlich verurteilt sehen von den Gerichten und noch bevor er das Gefängnis verlässt, wird er dann auch in sein Heimatland zurückgeführt werden“, versicherte der Kanzler. Dieses Vorgehen sei aktuell zwar „nicht einfach“, aber es werde dann umgesetzt, sagte Scholz. Deutschland organisiere auch jetzt schon Abschiebeflüge nach Afghanistan.
Nicht straffällig gewesen
Am Tattag hatte es zunächst Unklarheiten über den Aufenthaltsstatus des Tatverdächtigen gegeben. Am Abend kristallisierte sich heraus: Der junge Afghane hatte nach Worten von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) einen gültigen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis. „Damit war der Aufenthalt des Täters bis zum heutigen Tage nach gegenwärtigem Erkenntnisstand absolut rechtmäßig.“
Er war aber aus Ermittlungsverfahren polizeibekannt, in denen er wegen einer früheren Arbeit als Ladendetektiv als Zeuge geführt wurde. Die Motivation des Manns müsse ansonsten noch „weiter erforscht“ werden, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann bei einem gemeinsamen Pressestatement mit Söder. „Näheres wird noch ermittelt.“ Von einem Zusammenhang mit der bis Sonntag in München tagenden Sicherheitskonferenz gingen die Behörden nicht aus.
Herrmann kritisierte, dass bekanntermaßen seit Jahren - auch gegen seine langjährigen Forderungen - überhaupt nicht nach Afghanistan abgeschoben worden sei. Nur ein einziges Mal habe die deutsche Regierung angeordnet, schwerste Straftäter abzuschieben. Deshalb habe bei Tausenden von Afghanen mit abgelehntem Asylantrag bisher keine Abschiebung stattfinden können. Bei vielen seien die Anträge aber auch bewilligt worden.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte am Abend im ZDF, der Tatverdächtige sei „wohl bislang eher unauffällig“ gewesen. „Er war nicht ausreisepflichtig.“ Weiter sagte Söder: „Und auch bisherige extremistische Hintergründe sind jedenfalls nicht auf den ersten Blick so leicht erkennbar.“ Deshalb müsse jetzt weiter ermittelt werden, was der Grund für die schlimme und furchtbare Tat sei.
Polizisten hätten einen Schuss auf seinen Wagen abgegeben, um ihn zu stoppen, erklärte die Polizei. Der Fahrer wurde festgehalten. „Im Moment geht keine weitere Gefahr von ihm aus“, sagte ein Polizeisprecher. „Wir haben keinen Anlass zur Annahme, dass eine Gefahr für die Bevölkerung besteht.“ Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sagte, unter den Verletzten befänden sich auch Kinder. „Ich bin tief erschüttert“, sagte er. „Meine Gedanken sind bei den Verletzten.“
Kanzler Scholz: „Täter muss volle Härte des Rechtsstaats spüren“
Auch Bundesjustizminister Volker Wissing (parteilos) fordert politische Konsequenzen. „Sollte sich der Verdacht erhärten, wird unser Rechststaat den mutmaßlichen Täter zur Rechenschaft ziehen. Auch über politische Konsequenzen müssen wir weiter diskutieren“, heißt es in einem Posting auf X. Die Debatte um das Thema Asyl, Migration und Abschiebung abgelehnter Asylbewerber dürfte mit dem mutmaßlichen Anschlag von München in der heißen Wahlkampfphase eineinhalb Wochen vor der Bundestagswahl nochmals deutlich verschärfen.
„Radikalisierungsverläufe werden durch das Internet immer schneller und auch eine persönliche Krise kann so etwas triggern“, erklärte Terrorismusexperte Peter Neumann in einem ZDF Spezial. Daher müsse man die Postings und das Umfeld genau untersuchen, um keine falschen oder voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Bilder vom Ort des Geschehens:
Auto in Demonstrationszug der Gewerkschaft ver.di gefahren
Nach Polizeiangaben fuhr der Verdächtige mit seinem Mini Cooper in das hintere Ende der Demonstration in der Münchner Innenstadt, an der sich etwa 1.500 Menschen beteiligten. Einem Sprecher der Beamten zufolge schloss der Mann in seinem Fahrzeug zu einem Polizeifahrzeug auf, das den Umzug absicherte. Dann beschleunigte er und fuhr in die Menschen.
Einsatzkräfte griffen ein, ein Beamter nahm den Verdächtigen unmittelbar nach der Tat fest. Dabei wurde laut Polizei einmal auf dessen Fahrzeug geschossen. Der in München wohnende Beschuldigte wurde demnach leicht verletzt. Er habe aber keine Schussverletzung erlitten, hieß es weiter. Am Freitag soll er einem Ermittlungsrichter vorgeführt werden
.„Ich bin in dem Demonstrationszug mitgegangen“, schilderte ein Augenzeuge dem BR. Als das Auto in die Menschenmenge fuhr, sei er hingelaufen und „ich habe gesehen, dass ein Mann unter dem Auto gelegen ist. Dann habe ich versucht, die Tür aufzumachen, die war aber abgesperrt.“
Ver.di-Chef Frank Werneke äußerte sich bestürzt. „Noch ist nicht klar, ob es auch Todesopfer gibt“, erklärte Werneke in Berlin. In München fanden am Donnerstag Warnstreiks statt. Zudem gilt eine erhöhte Alarmbereitschaft wegen der bis zum Wochenende dauernden Münchner Sicherheitskonferenz, die am Freitag beginnt. Bereits am Donnerstag wurden unter anderen US-Vizepräsident JD Vance und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet.
Der Zwischenfall ereignete sich demnach im Bereich der Kreuzung zwischen Dachauer Straße und Seidlstraße im Innenstadtbereich unweit des Münchner Hauptbahnhofs.
„Schwarzer Tag für München“
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sagte am Abend, acht bis neun Menschen seien sehr schwer verletzt worden. Davon schwebten mehrere noch in Lebensgefahr. Reiter sprach von einem „schwarzen Tag“ für München. Nach der Tatortarbeit wurde der betroffene Bereich in München am Abend wieder für den Verkehr freigegeben.
Die Tat von München ereignete sich gut eine Woche vor der Bundestagswahl, im Wahlkampf spielen Fragen der inneren Sicherheit und Migrationspolitik vor dem Hintergrund mehrerer Gewaltverbrechen eine große Rolle.
Söder bezeichnete die Tat vom Donnerstag als einen „Schlag ins Gesicht“. „Wir können nicht von Anschlag zu Anschlag gehen, sondern wir müssen auch tatsächlich etwas ändern“, hob er hervor.