Der Bausektor gilt als einer der Hauptverursacher für Treibhausgase und Ressourcenverbrauch. Und eines der großen Themen, mit dem sich die heimischen Ziviltechniker derzeit beschäftigen, ist die Quartiersentwicklung. Was kann man sich da als Laie darunter vorstellen?
Barbara Frediani-Gasser: Unter Quartiersentwicklung versteht man die Planung, die Erschließung, den Bau und den Betrieb eines Gebiets. Der Begriff „Quartier“ – ähnlich wie Stadt- oder Ortsviertel oder Grätzel – bezeichnet das Lebensumfeld, in dem Menschen leben, wohnen und arbeiten und in dem sich ihr alltägliches Leben abspielt. Ein Quartier hat keine feste Größe. Es kann eine Stadt, ein Stadtteil, ein Dorf oder eine Nachbarschaft sein. Bei der Quartiersentwicklung geht es darum, die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern, das Klima zu schonen, und Boden und andere Ressourcen verantwortungsvoll einzusetzen.
Gustav Spener: Durch die Verschmelzung von Arbeiten und Wohnen rücken die Bedürfnisse enger zusammen. Neben ausreichend bedarfsgerechtem Wohnraum müssen neue Angebote geschaffen werden, die das tägliche Leben erleichtern und sich durch kurze Wege für die Bewohnerinnen und Bewohner zeitsparend auswirken: Einkaufs-, Sport-, Bildungs- und Erholungsangebote, Begegnungszonen mit Aufenthaltsqualität bis hin zu Mobilitätslösungen in Form von Öffentlichem Personen, Nahverkehr (ÖPNV), Car-Sharing, E-Mobility, oder der Anschluss an das Straßennetz sorgen dafür, dass Personen ihre täglichen Aufgaben bequem in den Alltag einbetten und lebendige Quartiere entstehen können.
Quartiersentwicklung ist nicht nur ein Thema für das städtische Umfeld. Insbesondere im ländlichen Bereich gibt es zahlreiche Entwicklungsmaßnahmen, die zur Stärkung von Ortskernen und ganzen Regionen geeignet sind. Die Ziele der hochwertigen Baukultur, Energieeffizienz, Mischnutzung im Quartier und des Klima- und Ressourcenschutzes sind dieselben.
Welche Entwicklung zeichnen sich aktuell in der Quartierentwicklung ab?
Frediani-Gasser: In Österreich ist die Quartiers- und Ortskernentwicklung stark vom Gedanken der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes geprägt. Der Bausektor kann in vielen Bereichen zur Erfüllung von Klimazielen beitragen. Als Expertinnen und Experten müssen wir uns zu Beginn jedes Projekts grundsätzliche Fragen stellen: Was soll realisiert werden und mit welchen baukulturellen und architektonischen Qualitäten? Welche Instrumente und Maßnahmen eignen sich dafür und wie können wir die Entscheidungs-träger:innen (z. B. in den Gemeinden) bestmöglich unterstützen. Bei der Planung von Quartieren muss bei jeder Bauaufgabe das Umfeld mitgedacht werden, jede Maßnahme soll auch einen Mehrwert für die bestehende Nachbarschaft ergeben. Das ist bei Bestandsquartieren schwieriger als bei neuen Projekten, denn hier wird ja in bestehenden Lebensraum eingegriffen. Dennoch wird im Kontext des Klimaschutzes gerade das Bauen in bestehenden Strukturen und die Sanierung immer wichtiger.
Gute Erfahrungen haben wir hier mit Planungsprozessen unter Beteiligung möglichst vieler Betroffener gemacht.
Welche Möglichkeiten gibt es, urbane und ländliche Quartiere klimagerecht zu gestalten?
Spener: Aktuell bekommen wir alle die Auswirkungen grenzenloser Versiegelung in Form von überhitzten Städten und Siedlungen, Feinstaubbelastung und Überflutungen bei Starkregenereignissen zu spüren. Ein Teil der Lösung ist also, unsere gebaute Umwelt klimaangepasst zu errichten bzw. zu adaptieren. Der blau-grünen Infrastruktur, der Begrünung und Integration von Wasserflächen zur Kühlung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, sie lässt sich nicht nur im großen Maßstab von Stadtentwicklungskonzepten einsetzen, sondern sie lässt sich in jeder noch so kleinen Bauaufgabe integrieren. Fassaden- oder Dachbegrünungen, Baumpflanzungen können helfen, das Mikroklima zu verbessern – dabei gilt es auch neue Techniken anzuwenden. Eine davon, das sogenannte Schwammstadtprinzip, ist eine multifunktionale Technologie, bei der Regenwasser nicht mehr möglichst schnell über die Kanalisation abgeleitet, sondern zur Kühlung und Bewässerung während Hitzeperioden zurückgehalten wird. Starkniederschläge können wie in einem Schwamm zurückgehalten und später langsam und ohne Schäden abgeleitet werden.
Wirkungsvolle Instrumente und Maßnahmen zur klimafitten Gestaltung unseres Lebensraumes gibt es in zahlreichen Bereichen der Raumplanung, der Energiegewinnung, der Energieraumplanung, der Integration von multimodalen Mobilitätsangeboten und vielem mehr.
Wo stehen wir bei der Quartiersentwicklung im internationalen Vergleich?
Frediani-Gasser: Vielerorts erst in Kinderschuhen. Generell können wir noch viel lernen, Mut beweisen und diesen einfordern. Nachhaltige Siedlungs- und Quartiersentwicklungen müssen als zentrale Planungs- und Gestaltungsaufgabe erkannt werden, die professionell und nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit komplexe Fragen auf den Gebieten der Raumordnung, Sicherung baukultureller Qualitäten, des Klimawandels, des Umweltschutzes und der geänderten sozialen Bedürfnisse beantworten kann.
Es ist eine herausfordernde und langjährige Aufgabe, die das Rückgrat der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung fordert. Wir müssen unseren Lebensraum schützen, bewahren und reparieren. Wir brauchen unverbaute Freiräume, vitale und verdichtete Ortskerne, Renovierung, Revitalisierung und Sanierung. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft kann Ressourceneinsatz, Abfallproduktion, Emission und Energieverbrauch effektiv durch langlebige Konstruktion, Instandhaltung oder Wiederverwendung minimiert werden. Die Entscheidungen darüber dürfen nicht den Investor:innen allein überlassen werden.
Spener: Es gibt schon erste Schritte in die richtige Richtung – wie etwa durch die auf Bundesebene initiierte Klimaschutzinitiative „klimaaktiv“, die neue Qualitätsstandards für klimaverträgliche und lebenswerte Siedlungen und Quartiere entwickelt, oder die „Neue Leipzig Charta“, die als europäisches Leitdokument für zeitgemäße Stadtentwicklung die nachhaltige Quartiersentwicklung als zentrale räumliche Handlungsebene forciert. Dennoch brauchen wir noch viel mehr Willen und auch striktere Vorgaben, um wirksam auf die Klimaveränderung zu reagieren – insbesondere in der Gesetzgebung und im Förderwesen. Zahnlose Regelungen und Kann-Bestimmungen in Gesetzen und von Klima- und Qualitätskriterien entkoppelte Förderungen und zahlreiche Lippenbekenntnisse bringen uns ebenso wenig weiter, wie Verantwortliche, die vorhandene Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Eine Städtebauförderung, die es in Deutschland seit 50 Jahren gibt und die hilft, zukunftsweisende Projekte finanziell und strategisch umfassen zu unterstützen, sollte es auch in Österreich längst geben.
Frediani-Gasser: Eine Wende werden wir nur gemeinschaftlich schaffen, in dem wir großräumig und interdisziplinär denken. Als Ziviltechniker:innen haben wir uns per Eid dazu verpflichtet, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Als Kammer ist es uns wichtig, mehr Bewusstsein für klimafitte Quartiersentwicklung aufzubauen, weshalb wir uns stark in diesem Bereich engagieren und Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen anbieten.