Gesetzestexte werden häufig unterschiedlich ausgelegt, sodass es immer wieder höchstgerichtlicher Entscheidungen bedarf, um Rechtssicherheit zu schaffen. Fragt man Gert-Peter Reissner, den Leiter des Instituts für Arbeitsrecht und Sozialrecht der Karl-Franzens-Universität, nach aktuellen Entwicklungen im Arbeitsrecht, kommt er auf folgende Urteile des Obersten Gerichtshofes (OGH) zu sprechen.
Zeitschulden bei Gleitzeit
Vor dem OGH landete der Fall eines Zustellers in Gleitzeit mit einer fiktiven Normalarbeitszeit von acht Stunden. Hier geht es zum Urteil. Dem Dienstnehmer wurde gesagt, er könne nach Erledigung seiner Zustellungen vorzeitig nach Hause gehen. Das führte zu fortlaufenden Minusstunden, die am Ende des Arbeitsverhältnisses in Abzug gebracht wurden. Dagegen klagte der Mann, weil für ihn weder Anfang noch Ende der täglichen Normalarbeitszeit frei wählbar gewesen wären. Der Leitsatz, der hier gilt, lautet, wie Reissner sagt: „Verbleibende Minusstunden, also Zeitschulden, sind bei einer Gleitzeitvereinbarung grundsätzlich der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen.“
Wird jedoch, wie im geschilderten Fall, der Arbeitnehmer (bei Gleitzeit) aufgefordert, heimzugehen, sobald er seinen Auftrag erfüllt hat, handle es sich um eine Dienstverhinderung, die zur Entgeltfortzahlung führt - gemäß Paragraf 1155 ABGB. „Eine Abdingung, also zu sagen, dass dieser Paragraf bei Zeitschulden nicht gilt, ist nicht möglich“, sagt der Jurist zur OGH-Entscheidung, in der Paragraf 1155 erstmals zur Anwendung gekommen sei.
Versetzung und Homeoffice
Ein Dienstnehmer in Leitungsposition arbeitete viel im Homeoffice. Nun wollte man ihm eine neue Leitungsposition zuweisen mit weniger Homeoffice-Anspruch. Der Dienstnehmer klagte daraufhin mit der Argumentation, dies sei eine Versetzung mit einer Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen und habe entsprechende Rechtsfolgen. Eines gleich vorweg: Ob im konkreten Fall wegen eines geringeren Ausmaßes der Arbeit im Homeoffice eine Verschlechterung der Entgelt- oder sonstigen Arbeitsbedingungen vorliegt, konnte vom OGH nicht beurteilt werden, weil der Mann, einfach gesagt, zu früh geklagt hatte: Zum Schluss der Verhandlung in erster Instanz war die Versetzung noch gar nicht passiert. Hier geht es zum Urteil.
Prinzipiell hätte die Klage allerdings erfolgreich sein können – weil, wie der OGH hier feststellte, auch bei der Versetzung auf Arbeitsplätze, die mit regelmäßiger Arbeitsleistung im Homeoffice verbunden sind, Paragraf 101 des Arbeitsverfassungsgesetzes gilt. Demnach ist, wie Reissner sagt, bei einer dauernden Versetzung (13 Wochen und mehr) der Betriebsrat zu informieren und mit ihm zu beraten. Geht mit einer Versetzung eine Verschlechterung der Entgeltbedingungen oder sonstigen Arbeitsbedingungen einher, bedarf es der vorherigen Zustimmung des Betriebsrates. Der Paragraf setzt freilich einen Betriebsrat voraus – und dieser wird die Zustimmung bei sachlich gerechtfertigter Begründung des Dienstgebers nicht verweigern können.
Haftung bei Arbeitsunfällen
Kommt es zu einem Arbeitsunfall mit Körperverletzung, schließt das Dienstgeberhaftungsprivileg, wie Reissner erklärt, eine Haftung des Dienstgebers oder ihm gleichgestellter Personen aus – solange kein Vorsatz besteht. Die Frage ist nun: Was ist eine dem Dienstgeber gleichgestellte Person? Reissner sagt mit Verweis auf das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz: „Gemeint sind gesetzliche oder bevollmächtigte Vertreter des Unternehmers und Aufseher im Betrieb.“ Der zweite Begriff werde allerdings sehr weit verstanden.
Vor dem OGH landete ein Fall, in dem Klägerin und Beklagter Dienstnehmer bei einem Gasthof in einem Skigebiet waren. Hier geht es zum Urteil. Der Beklagte holte die Klägerin im Auftrag des Dienstgebers mit einem Schneemobil von der Talstation einer Seilbahn zur Arbeit. Dabei kam es zu einem Unfall, bei dem sich die Klägerin (die am Sozius saß) verletzte. Das Erstgericht wies die Klage auf Schmerzengeld wegen eines Arbeitsunfalls ab, das Berufungsgericht gab der Klage statt, weil der Beklagte nicht als Aufseher im Betrieb anzusehen sei. „In der Revision war nur mehr strittig, ob der Beklagte zum Unfallzeitpunkt Aufseher im Betrieb war. Der OGH wies die Klage ab“, sagt Reissner.
Der Leitsatz laute: „Aufseher im Betrieb ist, wer andere Betriebsangehörige oder wenigstens einen (auch kleinen) Teil des Betriebs oder einen Betriebsvorgang in eigener Verantwortung zu überwachen hat.“ Ein Lenker ist demnach nur dann Betriebsaufseher, wenn ihm eine Weisungsbefugnis zukommt, die über die Verantwortlichkeit hinausgeht, die jeder Fahrer gegenüber seinem Mitfahrer hat. Die OGH-Entscheidung werde, so Reissner, in der Lehre kritisiert, weil der Schneemobilfahrer genau keine derartige Weisungsbefugnis hatte.