Vor meinem Umzug war mir nicht klar, was mich hier in der neuen Wohnung in Geidorf erwartete: Sie befindet sich in einem Neubaumilieu mit einer Mischung aus gepflegten Hochhäusern und kleineren Bauten mit Gärten. Es herrschen hier andere Geräusche als in der Innenstadt: Laubbläser und Heckenschneider, Kinderspiel und Gespräche unter Nachbarn, meistens alltäglich, freundlich. Einen Grund zur Sorge hatte ich schon: Auf der anderen Seite eines Zauns, wenige Meter von meinem neuen Schlafzimmerfenster entfernt, stehen die Altglascontainer für einige hundert Wohnungen: Das werde ich jeden Morgen beim Aufwachen hören, dachte ich, und überlegte mehrmals, ob ich die Wohnung nehmen sollte.
Nun, das Recycling-Ritual nimmt in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Formen an; in Berlin beispielsweise schmeißen die Leute ihre leeren Wein- und Bierflaschen mit Gusto hinein, sodass es möglichst laut knallt und das Glas in tausende Scherben zerschellt. Das tun sie übrigens auch, wenn die Fenster einer Erdgeschosswohnung direkt dahinterliegen: Berliner sind hart im Nehmen, haben wenig Mitleid, und wenn man in der deutschen Hauptstadt klarkommen will, gehört irgendwie auch dazu, dass man sich innerlich wappnet – nur so erlebt man den Humor, der hinter der „Berliner Schnauze“ gelegentlich aufblitzt. Nicht so in Graz, zumindest nicht in Geidorf nahe der Mur: Hier beugen sich die Nachbarn über den Rand des Containers und legen die Flaschen behutsam hinein. Ich war verblüfft, ein wenig sprachlos, vor allem dankbar. Diese Rücksicht kam für mich ganz unerwartet und ließ mich lange nachdenken – denn sie machten es nicht für sich selbst, sondern für die Nachbarn, deren Fenster in unmittelbarer Hörweite der Container liegen – Nachbarn, die sie wahrscheinlich gar nicht kennen.
Was sind wir für Mitmenschen? Stellen wir uns diese Frage überhaupt, und in welchen Situationen? Allzu oft erlebt man ein Fehlen der Rücksicht, ein Beharren auf den eigenen Gewohnheiten. Denkt man wirklich darüber nach, wie man das eigene Verhalten freundlicher, solidarischer, nachbarschaftlicher gestalten kann? Das Angebot von Mediationsmöglichkeiten in Graz zeigt, dass der Bedarf an Hilfe bei Nachbarschaftsstreit hoch ist. Es entstehen Konflikte aufgrund von Kulturunterschieden, es entstehen Konflikte zwischen Jung und Alt, kinderreichen Familien und Kinderlosen. Eine Verständigung kann in der Regel nur stattfinden, wenn man sich in die Lage der anderen Partei versetzt. Die junge Mutter, die bei fehlendem Aufzug den Kinderwagen im Hauseingang abstellen muss, bei einer betagten Nachbarin mit Gehhilfe aber die Angst vor Sturz und Knochenbruch auslöst; die Familie, die ihre Schuhe im Hausflur stapelt, weil sie nicht in die Wohnung gehören, damit aber das Ordnungsempfinden der Mitmieter stören. Und in den „besseren“ Bezirken: Das übermäßige Gießen von Balkonblumen beispielsweise, das neurotische Züge annimmt und wegen des langanhaltenden Herunterrinnens und anschließenden Nachtropfens dem Nachbarn darunter den Aufenthalt am eigenen Balkon vermiest. Es gibt in der Tat alles, auch Fälle, die wir Stadtbewohner uns nur schwer vorstellen können: Nachbarn, die – anstatt sich über den eigenen Garten zu freuen – eine Besitzstörungsklage wegen des Schattenwurfs eines benachbarten Baumes oder seines Laubs und Fallobsts erheben; ganze Familien, die sich beim Tischtennisspiel direkt vor dem Erdgeschossfenster ihres alleinlebenden Nachbarn lautstark austoben. Es geht auch anders: Freundliches Nachfragen und Rücksichtnehmen sind Möglichkeiten, die eine ansteckende Wirkung erzeugen können.
Bellende Hunde, die tagsüber eingesperrt und allein gelassen werden; Zigarettenrauch, der in das Kinderzimmer einer benachbarten Wohnung weht. Hobbytischler, die sonntags in der Frühe auf dem Balkon ihre Nachbarn mit der Stichsäge erfreuen. Nachbarschaftskonflikte können auch absurde Maße annehmen, und tatsächlich zählen sie zu den häufigsten Streitfällen vor Gericht. Oft sind es allerdings Projektionen, Fehleinschätzungen: Die junge Mutter beispielsweise erfährt erst im Gespräch mit der Gehbehinderten, dass diese nicht kinderfeindlich ist, im Gegenteil: Sie hat vier eigene Kinder großgezogen, genießt den Status der Familienmatriarchin, lebt aber lieber eigenständig in der Stadt, als zu ihren Kindern zu ziehen; die „fremden“ Gerüche, die aus der Wohnung der Familie mit „Migrationshintergrund“ kommen, verraten Delikatessen, die man vor dem Meckern lieber erst kosten sollte. In die Welt des Anderen wird man allerdings erst eingeladen, wenn man sich nachbarschaftlich verhält. Besser, es so zu tun, wie es die Geidorfer mit ihrem Altglas machen: Denn vielleicht liegt jemand krank im Bett, vielleicht braucht jemand ein wenig Freundlichkeit, ein wenig Rücksicht.
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Andrea Scrima