Pro: Warum wir uns kein Match anschauen!

Von Ilija Trojanow & Klaus Zeyringer

Einst ging es beim Sport um Hingabe und Leidenschaft, um Gemeinschaft und Identität. Inzwischen geht es nur noch um Macht und Geld. Großveranstaltungen wie Fußballweltmeisterschaften und Olympische Spiele sind in der Hand einer kleinen Gruppe, auffällig viele ihrer Mitglieder mafiös und autoritär. Fifa und IOC unterliegen kaum einer Kontrolle von außen, sie sind Vereinigungen nach Schweizer Recht und behaupten sich überstaatlich. Die Austragungsländer überlassen ihnen wesentliche Hoheitsrechte, sie setzen für sie Grenzkontrollen, Steuer-, Arbeits- und Geldwäschegesetze außer Kraft. Die Stadien und ihr Umkreis werden ihnen als Territorium überantwortet, in dem die Regeln von IOC oder Fifa gelten.

Fifa und IOC betreiben Kulturgüter der Menschheit als Monopol einer elitären, neofeudal organisierten Gruppe. Während die Veranstalter, also das jeweilige Steuervolk, seit Jahrzehnten immer gehörige Defizite machen, erzielt die Fifa enorme Gewinne, deren Verwendung keiner wirklichen öffentlichen Kontrolle unterliegt. Die immer wieder ans Tageslicht gelangende Korruption ist folglich kein Zufall, sondern im System angelegt. Zudem hat der medial hoch präsente Spitzensport, insbesondere der Fußball, finanzielle Dimensionen erreicht, die gesellschaftlich nicht mehr tragbar sind. Es handelt sich gerade nicht einfach um einen freien Markt ohne Subventionen, denn die öffentliche Hand bezahlt die Infrastruktur, Stadien, Straßen, öffentlichen Verkehr, und übernimmt die Polizeieinsätze.

Die Spieler verdienen inzwischen Gehälter, die tausendfach über den Einkommen von Lehrern und Krankenschwestern, Busfahrern und Verwaltungsangestellten liegen. Ermöglicht wird dieses System nicht nur durch die Mithilfe staatlicher Instanzen, sondern vor allem durch die Abgeltung der Medienrechte. Mit anderen Worten: durch uns Zuschauer.

So großartig wir den Sport finden, so sehr uns das Fußballspiel fasziniert, wir erachten es als dringend notwendig, diesen Zuständen als Publikum die Unterstützung zu entziehen. Wir sollten die neofeudalen Machenschaften und dunklen Geschäfte, die absurde soziale Ungerechtigkeit des ganzen Systems nicht länger unterstützen. Intransparenz und Korruption dürfen von einer demokratischen Gesellschaft nicht länger hingenommen werden. Boykottieren wir die WM 2018 in Russland! Schauen wir uns kein einziges Match an! Wir sind keine Quotenbringer, keine dummen Schafe, keine dumpfen Konsumenten, wir sind wahre Fußballfans!

Warum ich mir jedes Match anschaue!

Von Franzobel

Ich habe Asketen und Hungerkünstler nie verstanden. Was soll diese freiwillige Enthaltung? Gut, die Fastenzeit als Gelegenheit zur Besinnung lasse ich mir gefallen, aber der dauernde Verzicht auf Alkohol, Kaffee, tierische Produkte oder was auch immer dient doch nur der Eitelkeit der Selbstkasteier. Es fällt mir daher gar nicht ein, auch nur auf ein einziges WM-Spiel zu verzichten.
Ja, die Gestopften haben das Sagen, im Fußball wie überall. Die Unterschiede der Entlohnung sind unverschämt. Spielergagen, astronomische Ablösesummen … Dazu Korruption, Wettbetrug … Aber deshalb die WM boykottieren? Dann dürfte man sich auch keine Filme mit überbezahlten Stars ansehen, keine überteuerte Kunst, kein großes Sportereignis … Nein, das geht nicht, die WM ist das heilige Kirchenjahr für alle Fußballgläubigen. Außerdem, sofern man nicht gerade in einem mauretanischen Felsenkloster lebt, geht das gar nicht. Fußball ist überall, und die WM noch mehr.

Wer die Macht des Konsumenten nützen will, kann ja auf die Produkte der Sponsoren pfeifen. Ich zum Beispiel trinke weder niederländische noch amerikanische Pferdepisse, und das braune Zuckerwasser schon gleich gar nicht, auch esse ich keine paprizierten Transfett-Hostien, nur weil sie der Dativ-Schneck bewirbt, keine schlabbrigen, mit Fleischimitaten gefüllten Brötchen, und warum Turnschuhe aus China besser sein sollen, wenn sie Streifen haben, verstehe ich sowieso nicht.
Und dann das ewige Gerede vom wahren, echten Fußball? Das Getue mit der Tradition? Was soll das sein? Der FC Bayern, heute Inbegriff des Kommerzes, begann als jüdischer Verein, und der Malocherklub Borussia Dortmund war der erste an der Börse. Wer wahren Fußball sehen will, soll der Landjugend auf einem Krautacker beim Kampf mit der Gravitation zusehen, ich aber will eine Aufhebung physikalischer Gesetze, die tänzerische Leichtigkeit des Seins zwischen Körper, Ball und Gegenspieler, die Transzendenz des Seins. Das können eben nur die Stars.

Außerdem freue ich mich darauf, die Welt zu sehen: Costa Rica, Mexiko, Peru, Ägypten und Nigeria … Unbekannte Spieler fremder Länder, die zu Helden oder Statisten werden. Wer letztlich Weltmeister wird, ist mir egal. Wichtig sind die Erlebnisse, die Fans, ihre geschminkten Gesichter, Gesänge, Geschichten, Dramen. Eine Fußball-WM ist so, wie wenn Ostern, Hadsch, Ramadan, Chanukka, Silvester, Sonnenfinsternis und Weihnachten zusammenfallen, eine tägliche Dauermeditation in Sachen Ball, ein spirituelles Erlebnis. Wer sich das entgehen lässt, ist selbst schuld.

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