Walter Schachner liegt am Strand von Lignano, aber zur Ruhe kommt er in diesen Tagen nicht. „Ich werde ständig angerufen“, erzählt der Steirer, auf dessen Meinung im Lande der Squadra Azzurra nach wie vor ausgesprochen viel Wert gelegt wird. Journalisten wollen von ihm erfahren, wie er die Lage vor dem Duell zwischen Österreich und Italien beurteilt. TV- und Radiostationen schalten ihn live auf Sendung. Schachner steht unermüdlich Rede und Antwort.

Es herrscht Aufregung unter den Tifosi und innerhalb der Medienlandschaft. Ihre Nationalmannschaft hat durch die bisherigen Auftritte die im Lande schon lange nicht mehr beobachtete Fußball-Begeisterung reanimiert. „Die Italiener glauben, sie sind schon Europameister. Es herrscht eine unglaubliche Euphorie.“ Der 64-Jährige hat das Treiben beobachtet, es wurde ein Fußballboom ausgelöst, wie er früher einmal war.

„Sie haben ja eine lange Durststrecke hinter sich, bei der letzten Weltmeisterschaft waren sie nicht einmal dabei.“ Diese Schmach des geschädigten Fußball-Immunsystems mussten die vor Corona in erster Linie vom „Calcio“ infizierten Italiener erst einmal verdauen. Mit einem Male ist alles anders. „Die Bars sind bummvoll, berichtet Schachner. Die Italiener lassen in ihren vertrauten gastronomischen Sportstudios die Masken fallen und dem wiedergewonnenen Enthusiasmus freien Lauf.

Respekt der Italiener

Aber wie, so fragen sich die Azzurri, ist es denn wirklich bestellt um die Spielstärke der Österreicher? Schachner beruhigt deren Gemüter vorerst und erklärt Italien in seinen Analysen zum Favoriten. Seiner persönlichen Wahrnehmung zufolge zeigen die Azzurri aber Respekt. „Beim Match gegen die Ukraine haben sie unsere Mannschaft in den höchsten Tönen gelobt. Ursprünglich sind die Italiener davon ausgegangen, dass Österreich nach der Gruppenphase heimfahren wird.“ Diese Einschätzung hat sich fast ins Gegenteil verkehrt. „Sie waren überrascht, wie stark das Team aufgetreten ist, ‘das wird nicht einfach‘, haben sie gesagt. Jetzt wird vor den Österreichern gewarnt.“

An den bisherigen Darbietungen der Italiener hat Schachner Gefallen gefunden. „Sie haben unter Roberto Mancini einen völlig anderen Stil entwickelt. Sie attackieren vorn, haben große individuelle Klasse, sind am Ball sehr stark, spielen scharfe Pässe und sind trotzdem ausgesprochen ballsicher.“ Und die Defensive sei ohnehin eine Macht. „Den Catenaccio gibt es nicht mehr, aber sie lassen den Gegner nicht ins Spiel kommen und geraten hinten nicht unter Druck.“ Andererseits sei die Gruppe mit der Schweiz, Wales und der Türkei keine besonders schwere gewesen, versucht Schachner eine Relativierung.

Gleiches gelte auch für Österreich. „Nordmazedonien und die Ukraine musst du schlagen, aber jetzt müsste die nötige Lockerheit da sein, und mit Alaba in dieser Position haben wir einen richtig guten Spielaufbau.“
Ein Manko sieht der ehemalige Torjäger, der zwischen 1981 und 1988 bei Cesena, Torino und Avellino in der Serie A 48 Treffer erzielte, im Angriff. „Wir haben keinen richtigen Stürmer“, meint Schachner. Dennoch glaubt er, dass Österreich eine Chance. „Wenn sie in Höchstform agieren, dann ist eine Überraschung möglich.“