Lansing, Mitte April. Ein aufgebrachter Haufen dringt in das Staatskapitol, den Sitz der Regierung und des Parlaments in der Hauptstadt des US-Bundesstaats Michigan, ein. Die Demonstranten fordern ein Ende des Corona-Lockdowns. Die Situation droht zu eskalieren, als einige Schwerbewaffnete das Büro der demokratischen Gouverneurin Gretchen Whitmer besetzen wollen. Draußen, vor dem Amtssitz, hält ein Mann ein Schild hoch: „Tyrannen bekommen den Strick.“ Drinnen werden Abgeordnete, Sicherheitsbeamte und Journalisten angepöbelt. Ehe der Mob abzieht, posiert eine Gruppe Maskierter mit ihren Sturmgewehren stolz vor dem Büro der Gouverneurin. Angezettelt wurde die Besetzung womöglich von Donald Trump. „Befreit Michigan!“, hatte der US-Präsident ein paar Tage davor getwittert. Und: „Befreit Virginia, und rettet euren großartigen Zweiten Zusatzartikel. Er steht unter Beschuss!“

Der Zweite Zusatzartikel, das sogenannte „Second Amendment“, ist die am heftigsten debattierte und umkämpfte Passage der amerikanischen Verfassung. Er verankert das Recht eines jeden US-Bürgers, eine Waffe besitzen zu dürfen. Im Wortlaut steht da geschrieben: „Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“

"Stand your ground": Bild von Jon McNaughton. Schusswaffen werden immer ein integraler Teil von Amerikas politischer Kultur bleiben
"Stand your ground": Bild von Jon McNaughton. Schusswaffen werden immer ein integraler Teil von Amerikas politischer Kultur bleiben © Jon McNaughton

Wie die immerwährende Neutralität in Österreich ist diese Passage engstens mit der Identität des Landes verknüpft. Vor allem für republikanische Wähler sind Freiheit und das Recht auf Waffenbesitz ein und dasselbe. Jeder republikanische Präsidentschaftskandidat muss daher als Verteidiger des Zweiten Zusatzartikels, und damit des amerikanischen Freiheitsgedankens, auftreten. Nichts mobilisiert konservative Wähler neben linker Abtreibungspolitik mehr als die Angst, dass Demokraten dieses Grundrecht beschneiden könnten. Trump trat daher von Anfang seiner politischen Karriere an als entschlossener Protektor des Zweiten Zusatzartikels auf. In den letzten Monaten versuchte er wiederholt, Corona-Lockdowns mit dem Verlust des Zweiten Zusatzartikels gleichzusetzen.

Da aber im Zusatzartikel nur von einer wohlgeordneten Miliz die Rede ist, war das Recht des Einzelnen auf Waffenbesitz zumindest bis 2008 juristisch sehr umstritten. Erst damals entschied der Oberste Gerichtshof mit knapper Mehrheit, dass der Artikel das Recht jedes individuellen Bürgers sichert, eine Waffe zu tragen.

Die Entscheidung markierte gleichzeitig den Höhepunkt der Macht der National Rifle Association (NRA), der größten Interessengruppe der amerikanischen Schusswaffenlobby, die sich über Jahrzehnte für diese Interpretation einsetzte. Die NRA, die beinahe jede Art der gesetzlichen Waffenkontrolle ablehnt, ist seit den 1980er-Jahren ein wichtiger Faktor in jedem Präsidentschafts- und Kongresswahlkampf. Eine NRA-Wahlempfehlung kann über Sieg oder Niederlage entscheiden. Politiker werden von der NRA nach ihrer Pro- oder Kontra-Haltung im Hinblick auf Schusswaffen benotet. Nur bei einer positiven Bewertung fließen Wahlkampfspenden und werden die circa 5,5 Millionen Mitglieder der Organisation angehalten, einen auserwählten Kandidaten zu wählen. Im Juli sprach sich die durch Grabenkämpfe geschwächte NRA – es stehen Korruptionsvorwürfe in der Führungsriege im Raum – offen für Trump aus.

The Battle Of Lexington
The Battle Of Lexington © (c) The Print Collector/Heritage Ima (Print Collector)

Doch die Obsession für Schusswaffen geht in den USA über jeden Gesetzestext und jede Interessenvertretung hinaus. Sie wird auch einen demokratischen Präsidenten überdauern. Schusswaffen werden integraler Teil von Amerikas politischer Kultur bleiben. Sie sind tief in die kollektive Psyche der Nation eingebrannt. Selbst die Zehntausenden Schusswaffentoten jedes Jahr können das nicht ändern. Die Schusswaffe ist Teil des Gründungsmythos der Vereinigten Staaten. Bewaffnet mit Musketen, so lautet die Erzählung, hätten tapfere Bürgermilizen die Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpft. Dass in Wahrheit reguläre französische Truppen für den Sieg der dreizehn Kolonien über das britische Mutterland ausschlaggebender waren, wird oft unterschlagen.

Die Verklärung des Wilden Westens

Viel wichtiger für die große Bedeutung der Schusswaffe in der amerikanischen politischen Kultur war freilich der Wilde Westen, besser gesagt der Mythos vom Wilden Westen, wie er von der amerikanischen Waffenindustrie kreiert wurde. Bereits im 19. Jahrhundert versuchten amerikanische Waffenhersteller, individuelle Freiheit mit dem Besitz einer Schusswaffe gleichzusetzen. Der schon damals verklärte Wilde Westen war dafür die ideale Kulisse. Gewalt und Selbstjustiz an der westlichen „Frontier“ (Grenze) wurden von den Fabrikanten in Broschüren verherrlicht. So wurde die Winchester 73 als „die Waffe“ vermarktet, „die den Westen eroberte“. Schützenhilfe bekamen die Waffenhersteller vom Historiker Frederick Jackson Turner, der 1893 die These aufstellte, dass der wahre amerikanische Charakter – Eigenverantwortung, Kampfbereitschaft und Unabhängigkeit – nur an der „Grenze“ zu finden sei, also im Wilden Westen, einem Ort, wo die Zivilisation auf die Wildnis treffe. Als der Wilde Westen im späten 19. Jahrhundert verschwand, boten Waffenhersteller ihren Kunden an, mit dem Kauf einer Schusswaffe diese amerikanischen Ideale in der Zivilisation weiterzuleben.

Die Legende vom Wilden Westen: John Wayne in seinem ersten großen Western "Ringo"
Die Legende vom Wilden Westen: John Wayne in seinem ersten großen Western "Ringo" © (c) Getty Images (Silver Screen Collection)

Weiterentwickelt wurde der Mythos des Westens durch Hollywood und das Genre des Westerns, das im frühen 20. Jahrhundert entstand und die Vorstellung festigte, dass Amerikas Tugenden nur durch Waffengewalt aufrechterhalten werden könnten. Der Western wurde Teil des kollektiven Unterbewusstseins der Nation. „Die Griechen hatten ihre ,Ilias‘, die Juden das Alte Testament, die Römer die ,Aeneis‘, die Deutschen das ,Nibelungenlied‘, die Briten die ,Artuslegende‘. Die Amerikaner haben John Ford“, schrieb Robert B. Pippin in seinem Buch „Hollywood Westerns and American Myth“ („Hollywoods Western und der amerikanische Mythos“).

John Ford war einer der bekanntesten Regisseure des Genres. Wer seine Western im Detail studiert, erkennt aber, dass es darin oft weniger um Schießereien oder den Viehtrieb geht, sondern um politische Philosophie. Im bekannten Streifen „Ringo“ zum Beispiel, dem ersten großen Western von John Wayne, der von einer Postkutschenfahrt erzählt, symbolisieren die einzelnen Personen in der Kutsche verschiedene gesellschaftliche Archetypen. Der Film ist trotz dramatischer Indianerangriffe und wilder Verfolgungsjagden eine Meditation über den gewalttätigen Ursprung der amerikanischen Gesellschaft.

Es ist folglich kein Zufall, dass die NRA erstmalig in ihrer Geschichte in den frühen 1980er-Jahren politisch aktiv wurde und Ronald Reagan, einem ehemaligen Western-Leinwandstar, ihr Vertrauen schenkte. Die Gattung des Westernfilms war damals so gut wie tot. Strengere Waffengesetze wie das Schusswaffenkontrollgesetz von 1968 beschnitten den Zweiten Zusatzartikel der Verfassung. Der Republikaner Reagan, Mitglied der NRA, versprach, dass er gegen jegliche Beschränkungen des Waffenrechts sein Veto einlegen werde, sollte er Präsident werden. Selbst nach einem Schussattentat auf ihn 1981 wollte er keine weiteren Restriktionen zulassen. Reagan, der selbst eine Ranch in Kalifornien besaß, vereinte in den Augen der National Rifle Association und der Republikaner all die Tugenden, die den wahren amerikanischen Charakter ausmachen. Alte Westernstreifen wurden mit dem Aufkommen von Videokassetten wieder populärer.

In den 1990er-Jahren schwenkte Reagan jedoch um und sprach sich für das sogenannte „Brady-Gesetz“ aus, benannt nach seinem Pressesprecher James Brady, der bei dem Attentat schwer verletzt worden war. Das Gesetz beschränkte die Magazinladekapazitäten. Waffenkäufer mussten sich einer Überprüfung unterziehen. Mit tatkräftiger Unterstützung der NRA wurde das 1993 verabschiedete Gesetz schon vier Jahre später wieder vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Nur noch ein Präsident, Barack Obama, unternahm einen weiteren Anlauf, strengere Waffengesetze auf Bundesebene zu etablieren. Er scheiterte 2016.

Seither hat sich der Kulturkampf zwischen dem ländlichen republikanischen und dem demokratischen urbanen Amerika um die Waffenrechte zugespitzt. Für Befürworter des Zweiten Zusatzartikels steht nicht nur ein Gesetz, sondern die eigene staatsbürgerliche Identität auf dem Spiel. Die amerikanische Gesellschaft ist aber im Wandel. Der Mythos des Westens und das Recht auf Waffenbesitz werden vor allem von jungen Demokraten als Machtfantasie der weißen Vorherrschaft interpretiert. Trump stilisiert sich selbst zum Retter dieses langsam untergehenden Amerika. Der Präsident scheint dabei dem Grundsatz des Chefredakteurs einer lokalen Zeitung in der fiktiven Kleinstadt Shinbone in John Fords Western „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ nachzueifern: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“ In diesem Sinne haben die Leinwand-Westernhelden und Donald Trump wohl mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen könnte.