Der Westen, die EU und damit auch Österreich verhängen nach dem Einmarsch in der Ukraine Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Aber wird das eine Wirkung über bloße Symbolik hinaus haben – oder nicht?

Pro von Christian Kern

Europa kommt mit einem Taschenmesser zu einem Artilleriegefecht. Sanktionen sind alternativlos, aber ihre Wirkung wird sehr begrenzt sein, meint der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern.

Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ist eine unvermeidbare Reaktion. Ihr Wert besteht in der Einigkeit, die die Allianz damit demonstriert. Uneinigkeit würde dem Aggressor in die Hände spielen. Dennoch sind sie nur ein symbolischer Akt. Russlands Wirtschaft ist betroffen, wird aber nicht in die Knie gezwungen werden. Spätestens nach der Krim-Annexion hat Putin sein Land auf weitere Auseinandersetzungen vorbereitet. Die Staatsfinanzen wurden konsequent konsolidiert. Die Schulden, gemessen am BIP, betragen keine 14 Prozent. In der Eurozone wäre Russland damit Klassenbester. 56 Milliarden Dollar Auslandsschulden stehen Währungsreserven von knapp 630 Milliarden Dollar gegenüber.

Gleichzeitig ist Russland nicht nur einer der weltgrößten Lieferanten von Öl und Gas, sondern auch einer der wichtigsten Produzenten von Nickel, Titanium, Palladium und Aluminium. Man kann davon ausgehen, dass Russland für seine Produkte genug Abnehmer außerhalb des Westens finden wird. Russland hat genug finanziellen Spielraum, um mittelfristig Auswirkungen der Sanktionen abzufedern. Darüber hinaus hat Russland seine Abhängigkeit von internationalen Kapitalmärkten und westlichen Technologielieferanten zumindest teilweise reduziert.

Die Wirkung der Maßnahmen ist also begrenzt, dennoch hat der Westen kaum bessere Optionen. Wir haben unsere geopolitischen Hausaufgaben vernachlässigt. Europa kommt mit einem Taschenmesser zu einem Artilleriegefecht. Wir hängen sicherheitspolitisch am Tropf der Amerikaner und müssen zittern, ob 2024 Trump oder ein Vertreter von "America first" zum Präsidenten gewählt wird. Dann würde es sehr einsam um Europa. Gleichzeitig haben wir zu wenig unternommen, um unsere Energieversorgung auf erneuerbare Energieträger umzustellen und Erpressbarkeiten zu reduzieren.

Wenn jetzt gefordert wird, Russland aus dem Zahlungssystem Swift auszuschließen, ist das nicht eine Frage von Mut, sondern ob man bereit ist, ein unkalkulierbares Risiko einzugehen. Gefährden wir die Gasversorgung, hätte das enorme soziale Auswirkungen. Zumindest eine weitere Preisexplosion wäre die Folge. Hunderttausende Arbeitsplätze gingen verloren. Menschen in ganz Europa müssten sich entscheiden, zu essen oder zu heizen. Das kann man als Preis für internationale Solidarität als angemessen betrachten oder befürchten, dass es unsere Gesellschaft auf eine Zerreißprobe stellt – zwischen jenen, die sich das leisten können und jenen, die so an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden.

Wenn wir handlungsfähig werden wollen, um das Leben zigtausender Ukrainer und Russen zu retten, dann müssen wir beginnen, strategisch zu denken, und unsere Hausaufgaben erledigen. Mit den Sanktionen allein wird Putin nicht in die Knie gezwungen.

Kontra von Christian von Soest

Sanktionen haben ihren Platz, selbst wenn sie Putin nicht aufhalten werden. Sie zeigen, dass die EU einig ist – und sollen mögliche Nachahmer abschrecken, meint Christian von Soest vom German Institute for Global and Area Studies.

Angesichts der schockierenden Bilder russischer Bombenangriffe und rollender Panzer in der Ukraine scheint es geradezu lächerlich, über die Wirksamkeit von Sanktionen zu sprechen. Hat nicht der Westen mit seinen Sanktionsdrohungen auf ganzer Linie versagt? Russlands Präsident Putin kümmerten die jetzt drohenden wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen offensichtlich nicht.

Jedoch haben Wirtschaftssanktionen trotz allem einen bedeutenden Platz im Werkzeugkasten der Außenpolitik, auch und gerade um krass völkerrechtswidrigem Verhalten wie dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu begegnen. Es ist wichtig, dass wir die Maßnahmen nicht allein daran messen, ob sie direkt zur Verhaltensänderung des Sanktionsziels beitragen. Studien zeigen, dass sie dabei in ungefähr einem Drittel der Fälle erfolgreich sind. Die Erfolgswahrscheinlichkeit schrumpft weiter bei Streitpunkten, die dem Sanktionsziel besonders wichtig sind – und der Angriff der Ukraine gehört für Russlands Präsident zweifellos dazu.

Jedoch können Sanktionen auch den Handlungsspielraum des Gegenübers einschränken. Das klassische Beispiel sind Waffenembargos bei kriegerischen Konflikten, die – wenn sie durchgesetzt werden – den Nachschub von Waffen und Munition unterbinden. Im Fall von Russland können die Listung der politischen Eliten, die Sanktionierung von Banken und der erschwerte Handel mit Staatsanleihen, also das weitgehende Abkoppeln vom internationalen Finanzsystem, den Spielraum der russischen Regierung verringern. Schließlich senden die EU und die USA mit Sanktionen ein deutliches Signal, das zentrale völkerrechtliche Normen wie die Unverletzbarkeit der Grenzen bestärkt. Eine Verletzung dieser Grundsätze ist mit hohen Kosten verbunden. Nach außen sollen Sanktionen damit einerseits bestrafen und andererseits das Sanktionsziel Russland und mögliche Nachahmer von weiteren kriegerischen Handlungen abschrecken. In der Kriminologie wird diese Wirkung als „Spezial- und Generalprävention“ bezeichnet. Nach innen zeigen die 27 Mitgliedsstaaten, dass die EU handlungsfähig ist. Bereits als Putin am Montag die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte, reagierten die EU-Regierungen – für viele überraschend – schnell und einmütig.

Sanktionen stehen damit zwischen Nichtstun und Krieg. Sie sind ein Mittel der Außenpolitik, aber kein Allheilmittel. Wichtig ist nun, dass wirkliche Kosten für Präsident Putin und seine Unterstützer entstehen. Die Zwangsmaßnahmen haben ihre Berechtigung, auch wenn sie wahrscheinlich nicht zu einer unmittelbaren Verhaltensänderung und damit der Beendigung des Angriffs der Ukraine führen werden – leider.