Der am Wochenende bekannt gewordene „Sideletter“ zum Koalitionsvertrag zwischen ÖVP und Grünen sorgt bei den Granden der Öko-Partei in den Bundesländern kaum für Kritik. Auf APA-Anfrage war von hochgespielter Aufregung die Rede, es sei nichts Unanständiges passiert, und das Papier habe zur Absicherung gegenüber dem damaligen ÖVP-Chef Sebastian Kurz gedient, so der Tenor. Heftige Kritik kam am Montag erneut von SPÖ und FPÖ, aber auch aus der Gewerkschaft.

Bereits am Sonntag hatte die grüne Parteispitze in Form von Bundesobmann und Vizekanzler Werner Kogler und Klubchefin Sigrid Maurer eilig zu einem Hintergrundgespräch geladen, um die Wogen zu glätten. In der ORF-Diskussionssendung „Im Zentrum“ betonte Kogler, dass der Großteil der bisher geheimen Koalitionsabsprachen ohnehin im Koalitionsvertrag stehe. Ehemalige grüne Parteigranden wie der frühere Abgeordnete Albert Steinhauser und die frühere Vizebürgermeisterin Wiens, Birgit Hebein, kritisierten, dass selbst die eigene Partei vom Inhalt des „Sideletters“ nichts gewusst habe. Die grünen Landesorganisationen stehen aber demonstrativ hinter der grünen Führungsspitze.

"Nullnummer" Kopftuchverbot

Die steirische Landessprecherin Sandra Krautwaschl hat am Sideletter etwa nichts auszusetzen. "Viele durchschauen, dass es dabei um einen ÖVP-Spin vor dem U-Ausschuss geht", meint sie zur Kleinen Zeitung, dreht dann aber selbst die Erzählung weiter: "Ich würde gern wissen, ob die Neos und die SPÖ in Wien das anders machen."
Die Wiener Stadtregierung sagt, sie habe keinen "Sideletter".

Von Postenschacher oder dergleichen könne keine Rede sein, so Krautwaschl. Es sei ganz normal, dass sich eine Koalition über Postenbesetzungen, die eine Bundesregierung ja zu beschließen hat, verständigt. "Qualität und Kompetenz müssen dabei die Hauptrolle spielen." In puncto Kopftuchverbot ist sie bei Kogler, das wäre doch eine "Nullnummer". Und die Haltungsnote? "Wir haben im Landtag schon Abstimmungen dazu gehabt, wo ich stets dagegen gestimmt habe". Würde es in einer Landesregierung mit den Grünen einen Sideletter geben? "Da müsste man eher bei Landes-ÖVP und -SPÖ nachfragen", lacht sie.

"Gut und professionell"

Der Kontrollsprecher der steirischen Grünen, Lambert Schönleitner, hat mit dem aufgetauchten Papier kein Problem. Es hätte ihn auch nicht überrascht: "Anderes zu sagen, wäre naiv." Werner Kogler sei "gut und professionell" vorgegangen. Die Grünen saßen einem "übermächtigen Partner gegenüber", da dürfe man nicht untergehen.

Nicht verbergen will er seinen Unmut über das Bekanntwerden der geheimen Abmachung. "Ich erwarte mir, dass namhafte Persönlichkeiten in der ÖVP ein Mindestmaß an Professionalität an den Tag legen", grollt er in Richtung Wien. Ist so etwas gar ein Anlass für Neuwahlen? "Nein. Es wird durchgearbeitet", so Schönleitner. Ein Kopftuchverbot, das auch er ablehnt, hätte nie gehalten.

Aufregung „hochgespielt“

„Das erschreckt mich nicht sehr“, sagte etwa die burgenländische Landessprecherin Regina Petrik mit Blick auf den Inhalt des „Sideletters“ im Gespräch mit der APA fest. Sie betonte, dass es zu keinem Austausch zwischen Inhalten und Personalbesetzungen gekommen sei: „Das ist ein Spin.“ Was das Kopftuchverbot betrifft, hält sie ebenfalls fest, dass es sich um „keine Vereinbarung“ handle. Dies festzuhalten, sei der ÖVP wichtig gewesen. „Das ist eher eine Aufregung, die hochgespielt ist, kein Skandal“, meinte Petrik.

Das Verhandlungsteam habe das Pouvoir der burgenländischen Grünen gehabt und damit auch das Vertrauen, fühlt sie sich im Nachhinein ausreichend eingebunden. Auch von Kogler habe sich sie über die Verhandlungen ausreichend informiert gefühlt: „Das Vertrauen war gegeben. Es ist klar, dass nicht über jeden Punkt breit diskutiert werden kann.“ Jetzt handle es sich eher um ein „Erkennen“, wie Regierungsverhandlungen ablaufen: „Es ist nichts Unanständiges passiert.“ Seit dem Auftauchen des Sideletters habe es im Burgenland bei den Grünen jedenfalls „keine Aufregung“ gegeben, so Petrik, es werde lediglich nachgefragt, „wie das zu verstehen ist“.

Geheime Absprachen als „Absicherung“ gegen „Skrupellosigkeit“

Der langjährige Vorarlberger Grünen-Chef Johannes Rauch, der den Koalitionsvertrag mit der ÖVP mitverhandelt hatte, verteidigte gegenüber den „Salzburger Nachrichten“ den „Sideletter“. Dieser habe der Absicherung der Grünen gedient, um nicht bei laufender Regierungstätigkeit von der ÖVP über den Tisch gezogen zu werden: „Wir merkten erst während der Verhandlungen, wie Sebastian Kurz tickt. Das war ein Ausmaß an Skrupellosigkeit, das ich bisher nicht kannte“, erinnerte er sich. Laut Rauch liegt es nahe, dass das geheime Papier von Kurz beziehungsweise von der ÖVP ganz bewusst an die Öffentlichkeit gespielt wurde: „Da geht es offenbar darum, vor dem Untersuchungsausschuss die Grünen anzupatzen“, vermutet Rauch.

Helga Krismer, Landessprecherin der niederösterreichischen Grünen, zeigte sich eher gelassen. „Wer mit der ÖVP in Niederösterreich seit langer Zeit zu tun hat wie ich, weiß, dass solche Verträge politische Pflicht sind, um den Auftrag der Wählerinnen und Wähler überhaupt erfüllen zu können“, teilte sie am Montag auf APA-Anfrage mit. Die Delegierten der niederösterreichischen Grünen „haben auf dem Bundeskongress der Koalition die Zustimmung gegeben, weil sie bei Werner Kogler die Sicherheit haben, dass Grüne überall mitwirken“, wurde zudem betont.

„Nicht die gesamte Vereinbarung“

Eher zugeknöpft hinsichtlich der Causa zeigte sich Tirols Grünen-Klubobmann Gebi Mair. Er steige nicht auf den „ÖVP-Spin“ ein, einzelne Dinge von Vereinbarungen zu veröffentlichen, sagte Mair zur APA und meinte: „Soweit ich weiß, ist das nicht die gesamte Vereinbarung“. Er spielte den Ball in Sachen „Sideletter“ jedenfalls an die Volkspartei weiter. Es sei schließlich „durchaus denkbar, dass der Wunsch nach nicht-öffentlichen Vereinbarungen von der ÖVP gekommen ist“.

In Tirol, wo die Öko-Partei ebenfalls mit der ÖVP koaliert, habe man hingegen die „bewusste Entscheidung“ getroffen, „alles transparent“, also öffentlich, zu vereinbaren. Aber um eine solche Entscheidung zu treffen, „braucht es zwei Koalitionspartner“. Darüber hinaus wolle er zu der Causa nichts sagen, denn er kommentiere „nicht einzelne Zeilen von Vereinbarungen“, so Mair.

Aus der Hacklerregelung für Gewerkschaft „skandalös“

Bei der Opposition sah man all das naturgemäß anders. „Die ÖVP steckt bis zum Hals im Korruptionssumpf, die Grünen haben durch ihre Täuschungsmanöver und Geheimabsprachen jegliche Glaubwürdigkeit verloren“, meinte etwa SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch in einer Aussendung. Für ihn war klar, dass „die türkis-grüne Koalition nach all den Skandalen, den Schachereien und dem ewigen Streit keine Zukunft hat“.

Als „skandalös“ bezeichnet der Vorsitzende der Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) Rainer Wimmer die Vereinbarung zum Aus der abschlagsfreien Hacklerregelung. „Die Grünen haben hart und lang arbeitende Menschen für eine Handvoll Posten verkauft. Die Grünen, die sich Transparenz und Anstand auf die Fahnen heften, haben damit jede Glaubwürdigkeit verspielt“, erklärte er.

ORF-Redakteursrat sieht „Bruch der Verfassung“

Der ORF-Redakteursrat ist hingegen „empört, mit welcher Dreistigkeit es bei Regierungsverhandlungen zum Thema ORF ausschließlich um die Interessen der politischen Parteien und Postenschacherei geht“. Die Redakteurinnen und Redakteure sehen darin eine Gefährdung der Unabhängigkeit des ORF und bezeichnen die Vorgehensweise der Regierungsparteien als „Bruch mit der Verfassung und dem ORF-Gesetz.

FPÖ-Chef Herbert Kickl sah die Grünen in Geiselhaft ihres früheren Bundesparteisekretärs Lothar Lockl. Als Wahlkampfleiter von Alexander Van der Bellen (und als dessen externer Berater seit dem Amtsantritt als Bundespräsident) stehe Lockl nun im Mittelpunkt der geheimen Nebenabsprachen zwischen Grünen und ÖVP. Für Kickl muss dies dringend hinterfragt und beleuchtet werden.

Auch Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) meldete sich zu Wort. „Nein, ich kannte diese Sideletter nicht“, sagte sie am Rande einer Pressekonferenz. Derartige Vereinbarungen seien aber weder unüblich noch verwerflich.