Frau Minister, die Abschiebung mehrerer Kinder hat die Unterschiede zwischen ÖVP und Grünen offengelegt. Hat die Koalition noch eine Zukunft?

Leonore Gewessler: Es ist bekannt, dass wir in dieser Frage komplett gegenläufige Positionen haben. Es tut mir leid, was diesen Familien widerfahren ist und es tut mir vor allem leid, dass wir hier keine menschliche Lösung gefunden haben. Es ist offenbar so, dass einige an der Spitze der ÖVP überzeugt sind, dass sie diese Bilder brauchen, um Wählerstimmen zu erhalten. Ich bin der Meinung, es braucht sie nicht.

Ist das Entgegenkommen in anderen „grünen“ Themen wie dem Klima so viel wert, dass sich die Zusammenarbeit trotz solcher Konflikte auszahlt?

Ich bin in die Politik gegangen, um die Dinge zum Besseren zu verändern. Im Klimaschutz, in sozialen Fragen und in Bezug auf die Menschenrechte. An vielen Tagen gelingt uns das, gestern leider nicht. Genau dafür werde ich weiter kämpfen.

Sie und die Grünen sind jetzt seit einem Jahr in der Regierung. Was hat sich dadurch verändert?

Wir haben gerade das größte Klimaschutzbudget aller Zeiten auf den Weg gebracht, das größte Bahnausbaupaket, wir haben die Konjunkturmaßnahmen so ausgestaltet, dass sie dem Klimaschutz nicht im Weg stehen. Das zeigt die Aufholjagd, die wir im Klimaschutz gestartet haben – und das werden wir jetzt jedes Jahr so machen.

2019 sind Österreichs CO2-Emissionen noch gestiegen, hat das Umweltbundesamt gerade festgestellt, 2020 werden sie infolge der Krise um rund neun Prozent sinken. Rettet Corona das Klima?

Nein. Die Krise ist kein Ersatz für Klimapolitik. Was wir in der Treibhausgasbilanz der letzten Jahre sehen, ist wie notwendig die erwähnte Aufholjagd ist. Wir stagnieren bei den Emissionen seit 1990 – sie müssen aber stark sinken. Das ist unser Auftrag. Daran arbeiten wir, nicht nur bei den Zielen, sondern auch bei jeder einzelnen Maßnahme. Gerade im Verkehrsbereich explodieren die Emissionen, das macht auch Erfolge in anderen Sektoren zunichte.

Wie kommt man dem bei?

Das beginnt beim Ausbau der Öffis; wir haben das Budget für den Ausbau des Radverkehrs verzehnfacht, sind beim 1-2-3-Klimaticket so weit wie noch nie und haben bei der Steuerreform mit der Ökologisierung der Nova erste Schritte gemacht. Aber ja, es ist kein Sprint, sondern ein Marathon.

Ihr erklärtes Ziel in diesem Marathon, Klimaneutralität bis 2040, steht bisher nur im Regierungsprogramm. Es liegt noch immer kein neues Klimaschutzgesetz vor, das einen klaren Kurs und Konsequenzen bei Abweichung vorgibt.

Ich möchte auf EU-Ebene beginnen – mit der Verpflichtung, die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu reduzieren, haben wir ein viel ambitionierteres Ziel, als ich es noch vor einem Jahr für möglich gehalten hätte. Jetzt sind wir dabei, das auf nationale Ziele für 2030 herunterzubrechen. Sobald das feststeht, muss das Gesetz den Rahmen für die nächsten zehn, 15 Jahre vorgeben.

Das Klimavolksbegehren schlägt für dieses Gesetz unter anderem die Einrichtung eines „Klimarechnungshofs“ vor, der die Einhaltung des „Emissionsbudgets“ überwacht. Wollen Sie das aufgreifen?

Das ist eine spannende Idee. Derzeit macht das Umweltbundesamt die Klimainventur, aber ein Klimarechnungshof als weisungsfreies, unabhängiges Organ ist ein guter Vorschlag.

Sie haben das 123-Ticket angesprochen. Sie haben die Stufe 3, also das österreichweite Öffiticket für 1095 Euro, für 2021 versprochen. Bisher haben aber erst drei Länder den Vertrag mit dem Bund darüber unterzeichnet. Ist der Zeitplan noch zu halten?

Wir sind auf einem sehr guten Weg, dass die Österreichstufe heuer in Kraft treten kann. Das Österreich-Ticket steht seit 2006 in Regierungsprogrammen. Wir haben sichergestellt, dass wir das Budget dafür haben – der Bund trägt die Kosten. Es gibt jetzt Verträge mit Salzburg, Vorarlberg, Tirol, mit den anderen Ländern sind die Vertragsentwürfe sehr weit, die nächsten Unterschriften werden im Februar folgen.

Das heißt, der ursprüngliche Zeitplan – Start im ersten Halbjahr 2021 – wird wohl nicht halten.

Wir haben immer gesagt, erste Jahreshälfte oder Sommer. Wenn alle guten Willens sind, geht das auch.

Die weiteren Stufen – ein bundeslandweites um 365 Euro, eines für zwei Länder um 730 Euro – sind ebenfalls noch für diese Legislaturperiode angekündigt. Hält das oder wird das den Krisenbudgets zum Opfer fallen?

Wir haben uns sowohl im Nationalrat – einstimmig übrigens – als auch in der Regierung dazu bekannt, alle drei Stufen umzusetzen. Wir arbeiten schon parallel mit Hochdruck an den anderen beiden Stufen, diese sind aber komplexer in der Umsetzung, weil alle Bundesländer unterschiedliche Voraussetzungen haben. Es gibt etwa Bundesländer, in denen es jetzt noch gar kein Flächenticket gibt.

Ein anderer wichtiger Schritt zum Klimaschutz war die Öko-Steuerreform, ursprünglich schon für 2020 angepeilt. Warum dauert das denn so lange?

2020 war eine Ausnahmesituation. Trotzdem haben wir erste Schritte auf den Weg gebracht, Nova, die Erleichterung des Pendlerpauschale für Menschen, die mit den Öffis oder dem Rat in die Arbeit fahren, erste Maßnahmen gegen den Tanktourismus; die nächsten sind aber in Arbeit und werden bald kommen, bis hin zur CO2-Bepreisung 2022. Schrittweise, so wie wir das immer geplant haben.

Ist denn das überhaupt realistisch, in einer Situation wie der bevorstehenden Sozial- und Wirtschaftskrise eine Reform umzusetzen, durch die Dinge wie Autofahren und Heizen für viele teurer werden?

Die Steuerreform ist realistisch und sie ist notwendig. Aber es braucht beide Säulen, zu denen wir uns verpflichtet haben: die Steuern sollen eine ökologische Lenkungswirkung haben, aber auch eine Umsetzung der Einnahmen, die sozial gerecht ist. Wir brauchen das Steuersystem als Hebel im Klimaschutz – aber das muss wirtschaftlich vernünftig und sozial gerecht sein.

Schon 2020 hätte auch die Liste der klimaschädlichen Förderungen vorliegen sollen, eine Grundlage für diese Steuerreform – es gibt sie immer noch nicht.

Wir haben unseren Teil eingemeldet – und uns jetzt noch einmal vorgenommen, den Prozess zu beschleunigen. Wichtig ist aber nicht nur, die Liste zu haben, sondern bei den Maßnahmen in die Umsetzung zu kommen.

Sind Sie für die Abschaffung des Dieselprivilegs?

Wenn wir über CO2-Bepreisung diskutieren, müssen wir auch die Frage des Tanktourismus angehen. Das müssen wir in der Steuerreform adressieren. Wir haben eine lange Liste an Fragen, die werden wir jetzt Schritt für Schritt abarbeiten.

Die Regierung, besonders das Finanzressort, hat derzeit zig Baustellen rund um die Corona-Krise. Kann man das überhaupt parallel verhandeln?

Ja, wenn man das intelligent angeht. Ein gutes Beispiel ist die Investitionsprämie: Da haben wir uns überlegt, wie kann man das clever lösen, gleichzeitig Investitionen aus der Krise anzustoßen und das ökologisch sinnvoll zu gestalten? Wir haben uns alle an einen Tisch gesetzt, am Ende ist die doppelte Förderung für ökologische und Digitalisierungsprojekte, andererseits der Ausschluss von fossilen Anlagen herausgekommen.

Einer der Wege aus der Verkehrsproblematik werden Elektroautos sein; jetzt gab es vor zweieinhalb Wochen eine grobe Schwankung im europäischen Stromnetz, die so nahe an einen Blackout gebracht hat wie seit 15 Jahren nicht mehr. Wie soll denn so ein Netz mit der zunehmenden Elektrifizierung zurechtkommen?

Wir gestalten diesen Änderungsprozess auf vielen Ebenen: In der Stromerzeugung, in der Frage, wie wir die neuen Technologien auf den Markt bringt – und auch parallel im Stromnetz. Und wir wissen, es geht. Das heißt auf der einen Seite, dass das Netz die Kapazität haben muss, da werden wir investieren müssen. Auf der anderen Seite müssen wir auch unser Sicherheitsnetz, die Netzreserve, die solche Situationen abfangen muss, anders aufstellen. Dazu haben wir erst Ende 2020 ein neues Netzreservegesetz beschlossen.

Geht sich denn diese systemische Transformation bis 2030 aus?

Ja, das geht sich aus. Wir müssen auf allen Ebenen gleichzeitig aktiv werden. Wir sind in einem Zeitrahmen, in dem wir das nicht mehr nacheinander machen können, das muss parallel entwickelt werden.

Da ist Österreich in Verzug. Das Erneuerbaren Ausbau-Gesetz hätte eigentlich mit 1. Jänner in Kraft treten sollen – bis heute gibt es noch nicht einmal einen endgültigen Entwurf.

Wir sind wirklich auf den letzten Metern. Wir machen mit dem EAG eines der ambitioniertesten Energiewendegesetze in der EU, wir wollen bis 2030 hundert Prozent Strom aus Erneuerbaren haben und wir sind in manchen Bereichen – wie den Energiegemeinschaften – die ersten in Europa, die das umsetzen. Dadurch gibt es aber natürlich hohen Abstimmungsbedarf mit der Kommission.

A propos Brüssel: Sie haben vor kurzem gesagt, der Meetingflug für ein einstündiges Treffen soll der Vergangenheit angehören; wie wollen Sie denn das regeln?

Die Corona-Krise ist auch dahingehend eine Zäsur: Wir erleben gerade, dass man über Videokonferenzen vieles effizienter erledigen kann. Das ist eine der Änderungen aus der Pandemie, die bleiben wird.

Sind Sie erleichtert, dass der Flughafen Wien auf die Dritte Piste verzichtet?

Ich habe immer gesagt, dass wir gerade im Herzen Europas in Zukunft weniger fliegen werden und stattdessen zum Beispiel mehr mit der Bahn fahren werden. Insofern freut mich natürlich sehr, dass der Flughafen auf dieses Projekt verzichtet.

Wenn Sie sich in ihre frühere Rolle zurückversetzen: Welche Note würde die Global 2000-Chefin Leonore Gewessler der Klimaministerin Leonore Gewessler für ihr erstes Jahr im Amt geben?

Meine Motivation, in die Politik zu gehen war, dass wir im Klimaschutz in Österreich nicht mehr stagnieren, sondern was weiterbringen. Trotz der Ausnahmesituation ist da im vergangenen Jahr viel weitergegangen; ich glaube, ich würde mir eine zwei geben.