Pro: Korrespondent Stephan Baier

Eine absolute Mehrheit der Bevölkerung im Land gehört einer der christlichen Kirchen an. Vor ihrem Gebet muss sich in diesen schweren Zeiten niemand fürchten. Auch nicht, wenn es im Hohen Haus stattfindet.

In Nordkorea oder Saudi-Arabien wäre das nicht passiert. In Wien aber versammelten sich Politiker jüdischen und christlichen Glaubens, um zu beten. Per Video zugeschaltet waren der Wiener Oberrabbiner und Vertreter von sechs christlichen Konfessionen. Sie dürfen das, weil in Österreich Religionsfreiheit herrscht, weil sich Menschen hier zu ihrem Glauben frei bekennen dürfen. Sogar Politiker. Nach den atheistischen Tyranneien der Nazis und der Kommunisten mögen selbst erklärte Atheisten bitte davon Abstand nehmen, Juden und Christen zu sagen, zu welchen Zeiten und in welchen Ghettos sie beten dürfen.



Im Parlament wird viel geredet, was inhaltlich weniger konsensfähig ist als jene Gebete, die Juden und Christen hier am Dienstag sprachen: Es ging um Hoffnung und Ermutigung inmitten der Coronakrise. Und ja, auch um Gott. Die Republik Österreich huldigt nämlich keinem lebensfernen Laizismus, sondern schätzt aus gutem Grund die vielfältigen Beiträge der Religionen zum Gemeinwohl. Wenn alle in diesen schweren Zeiten ihr jeweils Bestes bringen, dann bringen gläubige Juden und Christen eben auch ihre Gebete.


Ja, auch im Parlament, denn das Hohe Haus ist kein religionsfreier Raum. Die absolute Mehrheit der Menschen in diesem Land gehört einer der christlichen Kirchen an. Demokratie ist, wenn sich das im Parlament spiegelt. Nicht nur die vielfältigen Interessen und Ideologien, auch die Meinungen, Welt- und Glaubenssichten der Bevölkerung finden im Parlament ihre Repräsentation. In Nordkorea eher nicht, in Demokratien aber schon. Warum also sollte der Glaube von mehr als 60 Prozent der Bürger im Parlament tabu sein?


Ja, Juden und Christen beten. Das hat damit zu tun, dass sie an einen geschichtsmächtigen Gott glauben, der in die Zeit eingreifen kann und – zu unserem Heil – tatsächlich eingreift. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die wir an Weihnachten dankbar feiern, ist für Christgläubige dafür Beweis schlechthin. Niemand ist gezwungen, diesen Glauben zu teilen. Aber es darf auch niemand Juden und Christen verbieten, stellvertretend für alle, für die ganze Gesellschaft und sogar für die ganze Menschheit, bittend und dankend vor Gott zu treten.
Nicht mehr ist am Dienstagabend im Parlament geschehen. Da haben Juden und Christen angesichts der vielfältigen Nöte unserer pandemiegeplagten Zeit gebetet. Niemand muss sich davor fürchten. Viele werden dafür dankbar sein.

Contra: Ex-Liberalen-Chefin Heide Schmidt

Ich halte es für höchst problematisch, das Parlament zum Ort öffentlicher Gebete zu machen. Ich halte es aber für inakzeptabel, bei einer solchen Aktion eine Religionsgemeinschaft ostentativ auszuschließen. Und ich halte es für den Gipfel des Inakzeptablen, wenn der Parlamentspräsident in seiner Funktion zu einer solchen Veranstaltung einlädt.

Die Trennung von Kirchen und Staat, wie sie in modernen Demokratien verfasst ist, ist ein Ergebnis der Aufklärung. Die „österreichische Lösung“ ist, wie so vieles in unserem Land, höchst inkonsequent. Nicht nur konfessionelle Schulen und Hochschulen profitieren von einer privilegierenden Behandlung und reizen damit ihr Spannungsfeld zu den Grundsätzen der Öffentlichkeit des Bildungswesens und der Hochschulautonomie bis zum Äußersten aus.


Die Kreuze in den Klassenzimmern, 1995 vom deutschen Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erkannt, sorgen in Österreich immer wieder für Diskussion – ergebnislos. Selbst eine Mehrheit muslimischer SchülerInnen in einer Klasse ändert nichts an den Zeichen an der Wand, was die Betroffenen nur als diskriminierend empfinden können.


Der Katholizismus in Österreich ist ungeachtet der realen Lebensführung der Menschen und der abnehmenden Mitgliederzahlen traditionell tief verwurzelt. Vom politischen Katholizismus aber haben wir uns emanzipiert. Bislang. Noch wird es mehrheitlich als Fortschritt empfunden, gesellschaftliche Normen nicht an religiöse Überzeugungen zu binden. Das Parlament sollte der Garant dafür sein. Auch deshalb ist es ein fatales Signal, wenn ausgerechnet hier missionarischem (katholischem) Eifer eine Bühne geboten wird.


Der Vorgang kann nur als dreister Schachzug einer Gesamtstrategie eingeordnet werden. Die Abkehr von aufklärerischen Werten ist auch in Europa im Vormarsch. Die Eiferer gegen erreichte gesellschaftspolitische Liberalisierungen sitzen bereits in Regierungen.


Ich halte es daher für einen Fehler, die Aktion des ÖVP-Politikers Sobotka, der sich dabei unzulässigerweise seines Amtes bedient, als gemeinsames Beten zu verharmlosen. Auch ist es an Zynismus schwer zu überbieten, Menschen aus politischem Kalkül bewusst in europäischen Flüchtlingslagern gequält und verhungernd zurückzulassen und in Gebeten Mitleid und Menschenwürde zu bemühen. Frau Klasnic, die bei all dem dabei ist, hat wohl wieder ihre bekannte Antwort zur Hand: „Man kann ja beichten gehen.“