Auf den ersten Blick ist die Zahl eine gewaltige. 300.000 bis 500.000 Österreicher sind noch unentschlossen: Sie wollen am Sonntag wählen gehen, wissen aber noch nicht, wem sie ihre Stimme geben. Christoph Hofinger, der bekannte und bewährte Hochrechner der Nation, weiß zu berichten, dass sich bei der Wahl im Herbst 2017 neun Prozent erst in den letzten zwei bis drei Tagen festgelegt haben. Diesmal könnten es, erklären Meinungsforscher, weniger sein – aber immer noch mehr Leute, als Graz Einwohner hat.

Doch Hofinger warnt vor falschen Schlussfolgerungen: „Die Kandidaten können recht entspannt in die letzte Woche gehen, denn das Bild, das sie in der Öffentlichkeit abgeben, hat sich verfestigt. Dass nach den TV-Marathons nicht mehr von ihnen heiser und krank geworden sind, grenzt ohnehin an ein Wunder.“ Auch der renommierte Politologe Fritz Plasser stößt ins selbe Horn: „Es kann noch graduelle Verschiebungen geben, dass eine Partei von 34 Prozent auf 33,1 abrutscht oder eine andere von 22 auf 22,8 Prozent hinaufgeht. Dass das Ergebnis umgedreht wird, ist auszuschließen.“ Es sei denn, einer der Kandidaten oder eine Partei werde von einem Mega-Skandal heimgesucht. Oder die globale Weltordnung gerät bis Sonntag aus den Fugen.

So gesehen dienen die letzten TV-Konfrontationen einer letzten Mobilisierung. Es sei selten so, unterstreicht Plasser, dass jemand, der zur Wahl gehen will, völlig im Dunkeln tappt. Vielfach schwanken Wähler zwischen zwei Parteien, haben sogar eine Präferenz, zaudern aber noch. Soweit Plasser. Bekanntlich setzt die ÖVP in der Schlussphase alles dran, vormals freiheitliche Wähler auf ihre Seite zu ziehen, die SPÖ unternimmt den Versuch, Kurz der Kaltherzigkeit zu überführen in der Hoffnung, das linksliberale Lager hinter sich zu vereinen und den Abfluss zu den Grünen zu stoppen. Die FPÖ hofft auf ein schmales Minus, die Neos auf ein kräftiges Plus, die Liste Pilz auf ein Wunder.

Kein "Warmrechnen" mehr

Umso paradoxer erscheint es, dass für den erfahrenen Hochrechner Hofinger Wahlabende zunehmend zur Herausforderung werden – noch dazu, wenn, wie diesmal, das Ergebnis in groben Zügen festzustehen scheint. Nur zu einem Teil trägt zu den Schwierigkeiten die Aufhebung der Bundespräsidentenwahl bei, die dazu geführt hat, dass bis zum Wahlschluss um 17 Uhr vom Innenministerium alle Detailergebnisse unter Verschluss gehalten werden und so ein „Warmrechnen“ vor der Hochrechnung nicht möglich ist.

Warten auf die Grazer Sprengel

Worin die Herausforderung besteht: Früher konnte man aus den vorliegenden, vorwiegend ländlichen Sprengelergebnissen klare Trends für das Gesamtergebnis ableiten, doch sind die Zeiten vobei. „Der Unterschied zwischen Stadt und Land wird immer größer“, konstatiert Hofinger. „Die ÖVP wird immer ländlicher, die SPÖ immer städtischer. In manchen Städten haben Neos und Grüne über 30 Prozent. Die unausgezählten Städte sind für jeden Hochrechner eine besondere Herausforderung.“ Am Wahlabend fiebert Hofinger den ersten Grazer Sprengelergebnissen entgegen, um einschätzen zu können, wie Wien und andere Ballungsräume gewählt werden. „Die Grazer Sprengel sind von überregionaler Bedeutung und besonders wichtig“, so Hofinger, dessen Institut Sora am Sonntag zum 20. Mal bei bundesweiten Wahlen eine Hochrechnung vornimmt.

ÖVP verliert bei den Wahlkarten

Dass die ÖVP immer ländlicher wird, hat zu einem Paradigmenwechsel bei der Auszahlung der Wahlkarten geführt. Früher legte die Volkspartei traditionell immer noch etwas zu, bei der Bundespräsidenten- sowie der Europawahl fuhr die ÖVP – nach Abschluss der Auszählung der Wahlkarten – ein Minus ein.