Zurzeit erregt in Österreich eine Debatte die Gemüter, welche sich um Anlassfälle zentriert, die schlimm genug sind. Ein Asylwerber ersticht eine Frau, er ist seit Langem als gefährlich bekannt, dennoch wurde er nicht aus dem Verkehr gezogen. Hatte die Behörde wirklich keine Handhabe?

Unser Innenminister eröffnete daraufhin eine Debatte, die auf eine lange, heikle Vorgeschichte zurückgeht. Die altüberkommene Frage lautet: Darf der Staat Menschen in Haft nehmen, noch bevor sie etwas getan haben, was dem geltenden Recht widerspricht? Dabei soll es sich aber, dem Willen der Regierung gemäß, exklusiv um Menschen handeln, die keine österreichischen Staatsbürger sind.

Ein Beispiel: Die Polizei entdeckt in der Wohnung eines Islamisten, der um Asyl angesucht hat, Sprengstoff und Gerätschaften, die für Anschläge geeignet sind. Dann wird man den Mann arretieren, ihn zunächst in Polizei-, dann in Untersuchungshaft nehmen. Er wird angeklagt werden und ein Gericht wird darüber zu entscheiden haben, was mit ihm passiert.

Indem der Islamist in seiner Wohnung Sprengstoff und Waffen lagerte, hat er sich nicht nur als potenzieller Attentäter qualifiziert, sondern eine Straftat begangen. Der Rechtsstaat reagierte, und zwar im Rahmen des sogenannten „Tatstrafrechts“. Auf Feinheiten der Gesetzesabwicklung sei im Moment verzichtet, denn es geht darum, den Unterschied zum „Täterstrafrecht“ skizzenhaft herauszuarbeiten.

Ein Alternativszenario: Der fragliche Islamist ist unter dem Einfluss von „Hasspredigern“ zum Anhänger der Scharia geworden, die alles Demokratische und Nichtislamistische zu bekämpfen wünscht. Aber er hat bisher keine einzige rechtswidrige Handlung gesetzt. Weder finden sich in seiner Wohnung Materialien, die auf die Vorbereitung eines Anschlags hindeuten, noch hat er sich einer illegalen Bewegung angeschlossen.

Trotzdem kommt die Polizei zu dem Ergebnis, dieser Mann könnte irgendwann einen Terrorakt planen und in die Tat umsetzen. Daraufhin wird er festgenommen. Schließlich wird seine weitere Haft richterlich angeordnet, und zwar aufgrund einer „konkreten Verdachtslage“ sowie – das ist wesentlich! – der Gutachten von Psychologen oder Psychiatern. Diese, gerichtlich bestellt, haben ein „Gefährlichkeitsprofil“ erarbeitet. Ist somit, grund- und menschenrechtlich gesehen, alles in Ordnung?

Hier sind ernsthafte Zweifel angebracht. Einige Stichworte zur Lage: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wollte der Begründer der „positiven Schule“ der Kriminologie, Cesare Lombroso, „Irrenarzt“ und Anthropologe aus Turin, herausgefunden haben, dass es einen Verbrechermenschen gibt. „L’Uomo Delinquente“ hieß sein mehrbändiges Hauptwerk. Dieser „Homo delinquens“ unterschied sich angeblich vom Homo sapiens, dem wir unbescholtenen Bürger hoffentlich angehören, durch eine Fülle von körperlichen und psychischen Merkmalen – „Stigmata“.

Derlei Merkmale, von der affenähnlichen Stirn und den Henkelohren bis zum schmerzunempfindlichen Penis, reichten hin – so Lombrosos Credo –, um die „geborenen Verbrecher“ kraft Gesetzes aus dem Verkehr zu ziehen und auf unbestimmte Zeit einzusperren. Freilich, bald erwiesen sich die meisten jener Stigmata als Ergebnisse von Fantastereien, Schlampereien und statistischen Scheinbeweisen.

Schon der neuzeitliche Großmeister der Physiognomie, der Schweizer Johann Caspar Lavater (1741–1801), hatte ein Motto: „Je moralisch besser, desto schöner; je moralisch schlimmer, desto hässlicher.“ Lavater dachte, er könne aus den Gesichtszügen eines Menschen ablesen, ob dieser ein Verbrecher von Geburt sei – unbeschadet des Umstandes, ob er etwas verbrochen habe oder nicht.

Heute ist häufig die Rede von den Psycho- und Soziopathen. Solche Individuen haben, laut Lehrmeinung, kaum ein Gewissen, obwohl sie intelligent sind und genau kalkulieren, wie sie, unter schlauer Ausnützung der Schwächen normal veranlagter Mitmenschen, ihre kriminellen Taten planen und ausführen können. Und selbstverständlich gibt es für diese Gruppe „chronisch Verdächtiger“ ebenfalls humanwissenschaftliche Experten. Bei all dem muss man jedoch bedenken, dass weder die Psychologie noch die Psychiatrie exakte Wissenschaften sind, ihr
Beitrag zur Rechtssicherheit bleibt daher eng begrenzt.

Ist es also mit dem Grundgedanken unserer Gemeinschaftsordnung, die peinlich darauf achtet, niemand widerrechtlich seiner Freiheit zu berauben, tatsächlich vereinbar, wenn die höchst umstrittene, von höchst unsicheren Tatprognosen abhängige Sicherheitsverwahrung ins Auge gefasst wird? Die Antwort lautet, hören wir auf die Stimmen der liberalen Väter unserer Verfassung und des Strafrechts: „Nein!“

Die Abwägung zwischen der Gefährdungslage einzelner Personen und dem Freiheitsentzug von Menschen, die bis jetzt keinerlei Straftat begangen haben, fällt in jeder menschen- und grundrechtlich fundierten Demokratie gegen das „Wegsperren“ aus. Ebenso wie sich der Staat darum zu kümmern hat, dass die Opfer von Straftaten und ihre Angehörigen nicht mit symbolischen Gesten abgespeist werden, ebenso gilt es, eines der höchsten sozialen Güter – die Gerechtigkeit, darunter die Strafgerechtigkeit – zu wahren. Darüber hinaus ist es eine gut begründete Lehre aus der Vergangenheit, dass die Unterwanderung des Tatstrafrechts zumeist von einem autoritären Typus unterstützt wird.

Dabei handelt es sich um Politiker, die – möglichst durch das Herausfiltern „gefährlicher Subjekte“ – in jene Richtung drängen, wo das von den neuen Möchtegern-Cäsaren gelobte Land der „illiberalen Demokratie“ liegt.

Illiberale Demokratie: Sie ist bloß der erste Schritt hin zur Herrschaft dubioser Machteliten unter dem Schutzschirm einer Präsidialdiktatur. In Österreich – meinem Land, in dem ich groß und alt wurde – tüftelt ein Innenminister unter dem Patronat des Bundeskanzlers an immer weiter gehenden Maßnahmen der Freiheitseinschränkung (flankiert vom unglaublichen Zuspruch einiger sozialistischer Spitzenpolitiker, die unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz auch alle „konkret tatverdächtigen Österreicher“ weggesperrt wissen möchten). Das erzeugt ein bedrückendes, ja beängstigendes Klima. Dabei geht es zumeist – und vorerst noch – gegen Ausländer, die ihre Heimat wegen drohender Lebensgefahr verließen.

Kurz: In diesen Reformumtrieben sollten wir ein Alarmsignal erblicken, das alle liberalen Demokraten und Institutionen zu weithin hörbarem Protest bewegen müsste – möglichst, bevor der Umbau Österreichs im Sinne der eifrigen Law-and-Order-Fraktion „vollendet“ wurde.