Am Stadtrand vom Dnipro, dem ehemaligen Dnipropetrowsk, liegt ein Friedhof. Der militärische Teil wurde erst zu Beginn des Krieges am 24. Februar angelegt. Trotzdem sind hier bereits mehr als 200 Soldaten bestattet. Einige Gräber schmücken Kränze in ukrainischen Nationalfarben, andere tragen schlichte Holzkreuze, auf denen oft auch die Abkürzung INRI steht, die der römische Statthalter Pontius Pilatus auf dem Kreuz Christi anbringen ließ.

Bei meinem Besuch legt gerade eine Familie Kränze auf einem frischen Grab nieder; darin liegt ein 22-jähriger Ukrainer, der am achten März dieses Jahres gefallen ist. Die Trauer der Angehörigen ist groß, doch sie können wenigstens trauern; denn auf dem Friedhof liegen neben Ukrainern und Russen auch viele Soldaten, deren Identifizierung bisher nicht möglich war. Denn das reale Höllenfeuer der Artillerie und der Raketen des Krieges hat nichts mit Hollywood zu tun; daher liegen in einem von zwei Leichenschauhäusern der Stadt auch viele schwarze Säcke mit nicht identifizierten gefallenen Soldaten. Beim Gang durch die Pathologie sehe ich völlig verkohlte sterbliche Überreste, wo man gerade noch erkennen kann, dass das einmal ein Mensch gewesen sein muss.



Darauf nimmt auch der stellvertretende Bürgermeister von Dnipro, Michail Lisenko, Bezug: „Sie haben selbst die sterblichen Überreste gesehen und wissen daher, dass bei manchen Gefallenen eine Identifizierung erst nach einem DNS-Vergleich möglich sein wird. Wir nehmen diese DNS der Gefallenen, um sie später identifizieren zu können.“
Identifizierte russische Soldaten werden nach Kiew gebracht; was dann weiter geschieht, ist uns nicht bekannt. Bekannt ist allerdings, dass der Austausch von Gefangenen schon mehrmals stattgefunden hat; ob das auch für Gefallene gilt, ist nicht bekannt.

Die Stadt Dnipro und der Landkreis von Dnipropetrowsk sind seit der Übernahme von Donezk durch prorussische Separatisten das industrielle Herzstück der Ukraine. Mit 3,5 Millionen Einwohnern ist der Landkreis nun auch der bevölkerungsreichste der Ukraine. Sollten die russischen Angreifer bis zur Stadt und an den Fluss Dnipro vorstoßen, käme das einer Niederlage der Ukraine im Krieg gegen Russland gleich. Beschossen hat die russische Artillerie bereits den Flughafen der Stadt, der auch eine Anlaufstelle für Flüchtlinge aus dem Norden, dem Osten und dem Süden ist.

Zentrale Lage am Fluss

Dnipro und Dnipropetrowsk haben große strategische Bedeutung. So liegt die Stadt einerseits am Fluss Dnipro; andererseits zielen alle drei Frontabschnitte in Richtung Dnipro, wobei derzeit der Osten und der Nordosten von besonders großer Bedeutung sind. Schätzungen zufolge haben sich bereits 55.000 Ukrainer nur in diesem Landkreis zur Territorialverteidigung gemeldet.

Gennadi Korban, Leiter des Stabes der Territorialverwaltung, gibt sich überzeugt davon, dass die russische Offensive im Osten scheitern wird: „Das ist ein ganz anderer Krieg; 2014 waren nur wenige bereit, für ihr Land zu kämpfen. In den acht Jahren danach hat sich sehr viel verändert, wir selbst waren überrascht, wie sehr die Menschen motiviert sind“, sagt er. „Bis jetzt haben wir Schlangen vor den Meldestellen für Streitkräfte. Die Kampfmoral ist sehr hoch; ja, es gibt nicht ausreichend Waffen, und auch die Logistik ist noch nicht sehr gut, doch die Motivation ändert alles.“ Hinzu kommen die massiven Lieferungen von Waffen aus dem Westen, die dem russischen Angreifer zu schaffen machen.

Widersprüchlich sind die Angaben offizieller Stellen, wie viele Flüchtlinge sich in der Stadt aufhalten; Dnipro ist eine Durchgangsstation Richtung Westen; zudem registrieren sich viele Ankömmlinge nicht oder melden sich ab, weil täglich etwa 1500 Personen mit dem Zug nach Westen evakuiert werden. Andererseits kehren auch Einwohner zurück, denn das Vertrauen in die Kraft der ukrainischen Streitkräfte ist auch in Dnipro groß.